Interview | Notfallversorgung in der Notaufnahme - Wenn die Ampel auf rot steht
Wer sich für einen Notfall hält, ist erstmal ein Notfall, sagt Rajan Somasundaram, Leiter der Notaufnahme vom Campus Benjamin Franklin (CBF) der Charité Universitätsmedizin Berlin. Dass die Zahlen in den Rettungsstellen stetig steigen, liege auch an den Strukturen der Notfallversorgung, die dringend geändert werden müssen, meint der Berliner Professor. Um die Patientenströme zu bewältigen, sortieren Kliniken zunehmend mit einem Ampelsystem nach Dringlichkeit. Allein das CBF schleust so jährlich etwa 60.000 Patienten durch.
Professor Somasundaram, was hatte der Patient, den Sie zuletzt behandelt haben?
Ein Mittzwanziger kam vor ein paar Stunden mit starken Bauchschmerzen zu uns. Er hatte schlimme Krämpfe und machte sich große Sorgen, was er haben könnte. Zunächst war unser Verdacht, dass sein Blinddarm entzündet ist, er vielleicht sogar einen Durchbruch des Blinddarms hat. Wir haben einen Ultraschall gemacht und ihm Blut abgenommen. Die Ergebnisse geben erst mal Entwarnung; wahrscheinlich leidet er unter einem Magen-Darm-Infekt.
Ist so ein Verlauf die Regel oder eine Ausnahme?
Ein typischer Fall. Die Patienten kommen zu uns beispielsweise mit Schmerzen im Brustkorb, Luftnot, Kopf- oder Bauchweh. Solche Symptome lassen sich ganz unterschiedlichen Diagnosen zuordnen, so dass wir sie sehr ernst nehmen. Nur Grippeanflug oder Herzinfarkt, schlechtes Essen oder entzündeter Blinddarm, zu wenig getrunken oder Schlaganfall – die Patienten können nicht einschätzen, ob sie eine akut-bedrohliche Erkrankung im Sinne eines "echten" Notfalls haben oder ob ihre Beschwerden harmlos sind. Auch für uns Mediziner ist das ohne weitere Untersuchungen oft nicht klar. Finden wir am Ende einen Herzinfarkt, war es gut und richtig, dass der Patient zu uns gekommen ist. Ist es keiner, dürfen wir die Leute nicht verurteilen, wegen einer scheinbaren Lappalie die Notaufnahme aufgesucht zu haben. Wir sollten uns vielmehr freuen, dass wir nichts wirklich Bedrohliches gefunden haben.
Was ist denn ein Notfall?
Für die deutschsprachigen Fachgesellschaften ist ein Patient dann ein Notfall, wenn er sich selbst oder andere Personen ihn als Notfall einschätzen. Auch hinter völlig harmlosen Symptomen kann eine gravierende Diagnose stecken. Ich erinnere mich an eine ältere Dame, die fühlte sich irgendwie unwohl, klagte über Bauchschmerzen und ihr war ein bisschen übel. Hatte sie bei der Hitze einfach zu wenig getrunken oder nur etwas Verdorbenes gegessen? Glücklicherweise fanden wir schnell heraus, dass ein Gefäß im Darm verschlossen war und ihr Darm drohte abzusterben. Wir operierten sie und konnten rechtzeitig helfen. Wäre sie ein paar Stunden später gekommen, wäre der Verlauf sicherlich sehr viel schlechter gewesen.
Manche Kollegen und die Krankenkassen klagen darüber, dass immer mehr Patienten in die Notaufnahme kommen, ohne ein Notfall zu sein. Sieben von zehn Patienten bräuchten nur eine ambulante Behandlung, heißt es. Sie könnten also auch zum niedergelassenen Arzt gehen.
Diese Statistiken haben alle ein Problem: Sie betrachten die Dinge nachträglich, nachdem in der Notaufnahme alle Befunde erhoben wurden. Diese Befunde sind aber vorher nicht bekannt! Der Patient kommt nicht mit einer Diagnose zu uns, sondern mit Beschwerden. Bis ich beispielsweise "Ausschluss einer Lungenembolie" auf die Entlassungspapiere schreiben kann, muss ich erst durch verschiedene Untersuchungen herausfinden, dass seine Luftnot und die Brustschmerzen nicht von einer Lungenembolie herrühren!
Der propagierte Missbrauch der Notaufnahme ist für Sie also kein Thema?
Unsere Befragungen zeigen, dass sich neun von zehn Patienten als Notfall einschätzen. Etwa 60 Prozent derer, die während der regulären Praxisöffnungszeiten in die Notaufnahme kamen, hatten vorher versucht, mit einem niedergelassenen Arzt Kontakt aufzunehmen oder einen Termin zu vereinbaren. Natürlich gibt es vereinzelt Fälle, wo Leute einen Tag vor dem Urlaub eine wochenlang bestehende Hautrötung abklären lassen möchten. Meiner Erfahrung nach sind das aber Ausnahmen. Die meisten, die zu uns kommen, fühlen sich krank, sie ängstigen und sorgen sich. Oder sie bekommen keinen Termin beim niedergelassenen Arzt, die Praxis hat zu und sie wissen nicht, wohin sie mit ihrem Problem gehen sollen. Sie können sich bestimmt etwas Schöneres vorstellen, als am Sonntagvormittag stundenlang bei uns zu sitzen und darauf zu warten, dass ein Arzt Zeit für sie hat.
Dann haben wir eher ein organisatorisches Problem?
Ja, und darüber diskutieren wir seit vielen Jahren mit den Vertretern der niedergelassenen Kollegen, der Kassenärztlichen Vereinigung, und der Politik. Per Gesetz sind die Niedergelassenen für die ambulante Akutversorgung zuständig, und zwar rund um die Uhr an jedem Wochentag. Aber die Erfahrung – auch in anderen Ländern – zeigt, dass die Patienten weiter die Notaufnahmen aufsuchen. Wir benötigen also zentrale Anlaufstellen, wo qualifizierte Mediziner entscheiden, wer ambulant behandelt werden kann, wer eine weiterführende Diagnostik und wer möglicherweise eine stationäre Behandlung braucht. An diesen Anlaufstellen sollten nach dem Vorbild in Dänemark, den Niederlanden oder Großbritannien die niedergelassenen Ärzte beteiligt sein. So sieht es übrigens auch der Sachverständigenrat in seinem aktuellen Gutachten zur Entwicklung im Gesundheitswesen.
Es wird dauern, bis es diese Strukturen gibt.
So lange sollte sich jeder die Rufnummer des Bereitschaftsdienstes der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) einprägen: Unter der 116 117 erfahren Patienten mit akuten Beschwerden, wohin sie sich am besten wenden. Wir könnten einigen Patienten unnötige Wartezeiten in der Notaufnahme ersparen und einen Teil unserer Ressourcen sinnvoller einsetzen, wenn die Bevölkerung diese Nummer mehr nutzen würde. In Notfällen oder Situationen, die dafür gehalten werden, wählen Menschen natürlich nach wie vor die 112 der Feuerwehr.
Was genau passiert, wenn jemand in die Notaufnahme des CBF kommt?
Innerhalb weniger Minuten schätzt speziell ausgebildetes Pflegepersonal ein, wie dringlich der Patient von einem Arzt gesehen werden muss. Jeder Patient bekommt eine von fünf Ampelfarben zugewiesen – von "rot" bis "blau", was "sofort" bis "nicht dringend" bedeutet. Die Farbe definiert, wie lange die Patienten maximal warten sollten, bis sie ein Arzt untersucht.
Nicht immer gelingt es, den Patienten innerhalb der vorgesehenen Zeit zu sehen.
Dann sollte eine erneute Beurteilung stattfinden. Wir würden den Patienten vorziehen, wenn sich sein Zustand in der Zwischenzeit verschlechtert hat. Vielleicht fällt er in seiner Dringlichkeit aber auch weiter zurück. Die Reihenfolge der Behandlung richtet sich danach, wie der Patient akut gefährdet ist und nicht nach der Reihenfolge seines Eintreffens in der Notaufnahme.
Wer ist besonders dringlich?
Rot oder orange wird Patienten zugeordnet, die beispielsweise bewusstlos sind oder bei denen der Verdacht auf einen Herzinfarkt besteht. Aber nur weil jemand grün oder blau triagiert ist, heißt das nicht, dass er wieder nach Hause und in zwei Tagen zu seinem Hausarzt gehen sollte. Selbst wenn jemand als nicht so dringlich eingeschätzt wird, kann er lebensbedrohlich erkrankt sein.
Nach welchem System beurteilen Sie die Patienten?
Wir verwenden das sogenannte Manchester-Triage-System, kurz MTS. Das System geht von Beschwerdebildern und Leitsymptomen aus. Die Hauptbeschwerden des Patienten sind bestimmten "Diagrammen" zugeordnet, zum Beispiel Kopfverletzung oder Bauchschmerzen. Dazu werden weitere Eigenschaften eingeschätzt wie "Lebensgefahr", "Schmerzen", "Blutverlust", "Bewusstsein", "Temperatur" und "Krankheitsdauer". Daraus ergibt sich ein Algorithmus, der die Triagestufe festlegt.
Welche Rolle spielt dabei die Erfahrung der Pflegekräfte?
Entscheidend ist nicht nur die richtige Handhabung des Triage-Systems, sondern auch, dass eine geschulte und erfahrene Pflegekraft die Situation einschätzt. Der klinische Eindruck eines Patienten kann im Einzelfall auch eine schnellere Reaktion erfordern als es das MTS vorgibt.
Gibt es bei Ihnen am CBF weitere Besonderheiten bei der Triage?
Wir verwenden ein erweitertes Triage-System, um Notfälle noch besser von Bagatellen zu unterscheiden. Dabei berücksichtigen wir zusätzlich zu den Symptomen und Beschwerden auch die Vitalfunktionen des Patienten: Puls, Blutdruck, Atemfrequenz, Sauerstoffsättigung und Bewusstseinszustand sowie teilweise die Körpertemperatur. Außerdem fragen wir gezielt nach Symptomen, die beispielsweise typisch für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall sind. Wir suchen also explizit nach Krankheiten, bei denen die Zeit drängt. Patienten, die Schmerzen haben, bekommen von uns Schmerzmittel angeboten.
Seit wann gibt es Triage in Deutschland?
In Deutschland wurde MTS erstmals 2004 in den städtischen Kliniken in Hamburg eingeführt. Im Jahr 2008 war die Charité die erste Uniklinik bundesweit, die damit begonnen hat. Mittlerweile ist MTS hierzulande recht weit verbreitet. Die Idee stammt aus der Militärmedizin. Dort hatte man nur begrenzt Ressourcen zur Verfügung und musste entscheiden, wem man damit hilft – und wer vermutlich versterben wird. Bei der Triage in der Notaufnahme werden selbstverständlich alle Patienten behandelt. In diesem Setting hilft die Triage, das Risiko zu managen: Wer lebensbedrohlich erkrankt ist, soll schnell identifiziert und behandelt werden.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Constanze Löffler.