"Unterwerfung" - Edgar Selge und Titus Selge im Doppelinterview
Das Frauenbild, das die Hauptfigur François hat, und das sich im Monolog des muslimischen Rektors Rediger spiegelt, ist schwer zu ertragen. Wie verstehen Sie Michel Houellebecq in diesem Punkt – wem hält er den Spiegel mehr vor, dem Muslim oder dem Ungläubigen?
Titus Selge: Jedenfalls glaube ich nicht, dass Michel Houellebecq diese Ansichten teilt. Er übt Kritik am männlichen Chauvinismus durch das Stilmittel der satirischen Zuspitzung. Explizite Passagen dienen dabei meiner Meinung nach vor allem der Aufmerksamkeitsökonomie. Über Frauen schreibt Houellebecq eigentlich sehr selten. Sie dienen ihm vielmehr als Projektionsflächen für die Gedanken der Männer, die er beschreiben und entlarven will. Denn sein eigentliches Thema ist die unerfüllte Sehnsucht des alternden Mannes, der trotz seiner fehlenden Reize "auf den Arm" möchte. Dieses Thema findet in Unterwerfung auf besonders gelungene Weise zu sich, weil eine typische Houellebecq-Figur zur Metapher für eine ganze Gesellschaft in der Midlife-Crisis wird. An dieser Krise sind die Frauen natürlich genau so beteiligt, aber über die schreibt Virginie Despentes besser.
Edgar Selge: Ich denke, er hält zunächst mal uns, den Ungläubigen oder lauen Westeuropäern, den Spiegel vor. Es ist ein Bild unseres verdrängten Chauvinismus.
Man kann an sich selbst beobachten, dass man in gleichgeschlechtlichen Gruppen über das andere Geschlecht anders redet als in gemischten Gruppen. Das gilt für Männer und Frauen. Es gibt in jedem von uns durchaus unterschiedliche Bilder von der Rolle des anderen Geschlechts.
Der von François und Rediger artikulierte Machismus beschädigt diese selbst. Er beschädigt den Mann, der so redet. Er beschädigt nicht die Frauen. Diese hören ihm aber gerne zu. Viele von ihnen lachen jedenfalls. Im Theater, im Beisein ihrer Männer. Das ist meine Erfahrung.
Zur Premiere des Stücks in Hamburg sagte Karin Beier, die Intendantin des Schauspielhauses, die das Stück auch inszenierte, in der ZEIT: "Houellebecq beschreibt eine kranke, erschöpfte Gesellschaft". Was meinen Sie, heißt dies als Handlungsanweisung an eben jene Gesellschaft – also jeden einzelnen von uns?
Titus Selge: Seltsames Wort: "Handlungsanweisung". Ich habe die Aufführung in Hamburg oft gesehen und jedes Mal haben die Leute im Foyer sehr angeregt darüber diskutiert, dass man eigentlich mehr tun müsste, um die eigenen Werte zu verteidigen. Das wünsche ich mir auch für unseren Film, dass er die Zuschauer dazu bringt, ihre Denkmuster in Frage zu stellen und Gespräche zu führen, die weiter führen. Mir geht der Vermieter unserer Hauptlocation in Paris nicht aus dem Kopf. Er hat mit dem Brustton der Überzeugung gesagt: "Michel Houellebecq ist ein Optimist! Er will durch seine Bücher die Gesellschaft verändern. Und dafür nimmt er in Kauf, dass man ihn beschimpft." Ich persönlich fühle mich durch den Text der "Unterwerfung" ganz einfach herausgefordert und inspiriert. Ich könnte es auch anders nennen: Gute Unterhaltung.
Edgar Selge: Handlungsanweisung gibt es natürlich nicht im Theater. Aber Houellebecq setzt einen Impuls, sich mit seiner eigenen Kultur und Religion auseinanderzusetzen. Mit der Tradition unserer Werte wie Christentum, Aufklärung, Emanzipation und Gleichberechtigung. Auch mit dem demokratischen Freiheit, unkorrekt denken und sprechen zu dürfen.
In unserem Alltag sind wir eher unreflektierte Konsumenten und müssen funktionieren. Im Medium von Theater und Film können wir zu kritisch Zuhörenden werden. Wir können unsere Grenzen erweitern. Salopp gesagt: Je mehr wir im Wahrnehmungsmodus sind, desto weniger können wir verbocken. Unser tagtäglicher Aktivismus und Rechtfertigungsdruck ist für zwei, drei Stunden außer Betrieb. Das tut gut. Und in diesem Fall, mit diesem Autor, greifen wir einen Zeitgeist auf, für den wir uns alle schämen, gerade weil er uns so lustvoll interessiert. Wir konfrontieren uns mit unserem Opportunismus, unserer Überheblichkeit islamischen Fremden gegenüber und last not least mit unserem versteckten Machismus und geheimen patriarchalen Wünschen. Dabei dürfen wir uns auf unterhaltsame Weise über uns selbst lustig machen.
Viel besser kann man seine Zeit nicht verbringen!