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Bis 1942 lebte Martha Cohen in der Berchtesgadener Straße in Berlin Schöneberg. 1942 wurde die 82 jährige ins KZ Theresienstadt deportiert und ermordet. Heute wohnt die Historikerin Ingke Brodersen in der ehemaligen Wohnung von Martha Cohen und hat jetzt ein Buch über ihre Vormieterin und das Schicksal der vielen anderen jüdischen Bewohner ihres Hauses geschrieben.
Das Bayerische Viertel in Schöneberg. Anfang des 20. Jahrhunderts ist es eine städtebauliche Pracht. Für Propagandaministers Joseph Goebbels: ein "Judenparadies". Und das soll mit dem Nationalsozialismus sein Ende haben.
1991 zieht die Historikern Ingke Brodersen in die Berchtesgardner Straße 37. und betritt damit zugleich die Geschichte dieses sogenannten "Judenhauses", für 24 jüdische Bewohner die letzte Lebensadresse, bevor sie 1942 in die Konzentrationslager der Nazis deportiert werden. Eine von Ihnen: Martha Cohen.
Ingke Brodersen, Autorin
"Martha Cohen war eine sehr begabte Pianistin. Bei ihrer Vermögenserklärung, wenige Tage vor ihrer Deportation, findet sich auch noch ein Vermerkt, dass sie tatsächlich noch über ihren Steinway-Flügel verfügte, was eher selten war zum Zeitpunkt 1942. Aber er war noch bei ihr und für sie sicher auch lebensnotwendig, sich immer mal wieder auch in die Musik hinein zu begeben und dieses strangulierende Dasein drumherum temporär zu vergessen."
Ingke Brodersen hat sich auf die Suche nach den Bewohnern ihres Hauses begeben. Hier, wo sie heute lebt, zieht die 82jährige Witwe des Philosophen Leonard Cohen im Frühjahr 1939 ein. Doch schon bald muss sie ihre Zimmer mit zwei "Untermieterinnen" teilen. Mit Bertha Sternson und Clara Marcus, Jüdinnen wie sie.
Ingke Brodersen, Autorin
"Sie bekam dann 1939/40 zwei Frauen als Zwangsmieter zugewiesen, die ihre eigenen Wohnungen in Wilmersdorf hatten räumen müssen. Denn Berlin hatte einen eklatanten Fehlbestand an Wohnungen - über 200 000. Das war ein großes Problem in der Stadt. Und ein klein bisschen Entlastung schaffte die sogenannte "Entjudung" des Wohnungsbestandes. Veranlasst durch Albert Speer, damals Generalbauinspekteur in Berlin, später Rüstungsminister unter Adolf Hitler."
Albert Speer braucht Platz für die geplante "Weltstadt Germania". Allein für die gigantische Siegesallee sollen ganze Stadtviertel geschliffen werden. Speer errichtet die "Durchführungsstelle für die Neugestaltung der Reichshauptstadt". Sie dient zugleich als operative Zentrale zur sogenannten "Entjudung". Seit April 1939 können jüdische Mieter ohne Angaben von Gründen zur sofortigen Räumung ihrer Wohnungen aufgefordert werden.
Ingke Brodersen, Autorin
"Dass die "Entjudung" des Wohnungsbestandes gleichsam der erst Schritt zur Deportion und zur Vernichtung war, so weit dachten die meisten, vor allem die jüdischen Bewohner der Stadt, noch nicht. Das war ein zu schrecklicher Gedanke, als dass man ihn schon an sich heranlassen konnte."
Ingke Brodersen sichtet Akten, Adressbücher, Vermögenserklärungen nach Bruchstücken all dieser Leben. Akribisch rekonstruiert sie, wie sie gedemütigt, sozial isoliert und ausgeplündert werden, erzählt von gewaltsamen Trennungen, zerschnittenen Lebensfäden.
Wer es sich leisten kann, flieht. Oder versucht zumindest die Kinder aus Deutschland heraus zu bringen. Zurück bleiben die weniger Begüterten und Älteren, vor allem Frauen.
Ingke Brodersen, Autorin
"Ich glaube, nahezu Alle haben sich in einer klaustrophobischen Situation gefühlt, weil die Strangulierung Tag für Tag weiter angezogen wurde. Für ältere Menschen wie Martha Cohen war es fast unmöglich, sich noch sämtliche Papiere zu besorgen, um davon kommen zu können. Man brauchte weit über 20 Dokumente, man musste in langen Schlangen anstehen, um sie zu bekommen. Man musste in der Regel monatelang auf diese Papiere warten, bis man sie wirklich alle beisammen hatte, und man brauchte Geld."
Nach und nach werden die Bewohner des Hauses zur Deportation geholt. Martha Cohen wird am 1. Dezember 1942, mit dem "54. Alterstransport", nach Theresienstadt geschickt. Nicht einmal zwei Wochen nach ihrer Ankunft stirbt sie. Ihr Leichnam wird verbrannt, die Asche in die Eger gekippt.
Ihre Hinterlassenschaften in der Berchtesgardener Straße 37 werden
von einem Gerichtsvollzieher amtlich geschätzt, ihr Steinway-Flügel erhält ein Preisschild von 1500 Reichsmark.
Ingke Brodersen, Autorin
"Die Möbel wurden einer Spedition hier in der Straße übergeben, die autorisiert war, sie zu verkaufen und 10 Prozent Provision einzubehalten. Dann wurde der Erlös an den Oberfinanzpräsidenten überwiesen."
Ingke Brodersen hat das Leben der 24 Verschwundenen zu ihrem eigenen macht. Die Bewohner von damals sind aus der Vergessenheit in dieses Haus zurückgekehrt.
Ingke Brodersen, Autorin
"Die Toten können nicht zurückkommen, also müssen wir sehen, ob wir das, was sie erlebt, gedacht, gefühlt haben, ob wir dieses mitteilbar machen können."
"Wenn ich an meinem Schreibtisch sitze, dann gucke ich aus dem Fenster. - ja, gegenüber auf der gegenüberliegenden Straßenseite sind ganz andere Häuse jetzt aus den 50er Jahren. Aber die Heilsbronn Kirche hat auch Martha schon gesehen, dieses Stück Himmel, dass man hier aus dem 4. Stock dieser Wohnung sieht, hat auch sie gesehen. Das lässt einen auch nicht mehr los."
Man kann sich nur von einem Menschen verabschieden, den man kennen gelernt hat. "Lebewohl Martha" heißt Ingke Brodersen ergreifendes Buch.
Autor: Lutz Pehnert