Alleskönner gegen Schwerhörigkeit - Smarte Hörtechnik: Was hilft wem?
Ein Hörgerät, das den Blutdruck misst. Eine Hörkontaktlinse direkt auf dem Trommelfell - inklusive Mikrofon, Klangprozessor und aufladbarer Mikrobatterie. Die Ideen für Neuentwicklungen innovativer Hörsysteme versiegen nie. Und auch das Geschäft mit Hörgeräten gleicht schon heute einem Markt der unbegrenzten Möglichkeiten. Doch nicht alles, was möglich ist, ist für Schwerhörige auch sinnvoll.
Über 450 Millionen Menschen sind weltweit schätzungsweise schwerhörig. In Deutschland hört etwa jeder siebte Erwachsene schlecht, ab 65 Jahren sogar jeder zweite. Geschätzt 3,7 Millionen dieser Betroffenen besitzen zwar bereits ein Hörgerät - doch nur ein Viertel von ihnen trägt es auch. Hunderttausende Geräte verschwinden in der Nachttischschublade oder werden nicht täglich genutzt.
Demenzrisiko & Sturzgefahr: Folgen schlechten Hörens
Das ist nicht nur viel rausgeschmissenes Geld. Unbehandelte Schwerhörigkeit kann auch körperliche wie seelische Folgen haben. So zeigte zum Beispiel eine prospektive Multicenterstudie mit 2.190 älteren schwerhörigen Personen: Je größer der Hörverlust, desto geringer die physische Fitness. Das Risiko zu stürzen oder pflegebedürftig zu werden war bei den Probanden und Probandinnen mit Schwerhörigkeit um ein Drittel erhöht.
Zudem gesellen sich psychische Belastungen wie Angst, Isolation und Depression dazu. Unbehandelte Schwerhörigkeit im mittleren Lebensalter fördert die Demenz, wie 2020 eine Studie in dem Fachmagazin Lancet belegt.
Das Gehirn muss wieder hören lernen
Hörgeräte können dem entgegensteuern. Doch die Erwartungen der Kunden sind oft zu hoch - viele sind unzufrieden mit den dem künstlichen Klang, den verstärkten Hintergrundgeräuschen und komplizierten Zusatzfunktionen der Hörhilfen, die manchem im Alltag eher lästig erscheinen.
Und was oft nicht mitgedacht wird: Zahlreiche Betroffene handeln oft Jahre zu spät - und dann soll das ausgewählte Hörgerät Probleme ausbügeln, die kein Hörgerät ausbügeln kann.
Hintergrund: Die Hörleistung des Gehirns kann erst einmal kein Hörsystem ersetzen. Wer jahrelang in angenehmer "Schwerhörigkeitsstille" verbringt, entwöhnt sein Gehirn. Je länger man also die Vögel nicht mehr zwitschern hört, desto mehr verlernt das Gehirn, eintreffende Schallinformationen zu verarbeiten. Die Umstellung auf das "neue" Hören braucht schlicht weg vor allem Zeit. Und nicht unbedingt ein Präzisions-Hörgerät.
Beige Klötze gibt es nicht mehr
Für alle Modelle gilt: Optisch habe moderne Hörgeräte nichts mehr gemein mit den beigen Klötzen hinterm Ohr, an denen einst der Großvater ständig herumfummelte. Moderne Hörgeräte sind Hightech in Miniformat, winzig wie ein Fingernagel, leicht wie eine Centmünze, schnell wie ein Computer: Millionen Rechenoperationen führen die Geräte pro Sekunde aus, dezent sind sie gestaltet, farblich dem Modetrend angepasst.
Digitale Hörgeräte setzen sich durch
Insgesamt sind in Deutschland mittlerweile überwiegend digitale Hörgeräte im Umlauf. Analoge Systeme verstärken lediglich die Schallwellen. Digitale Technologien wandeln den Schall zusätzlich über einen Signalprozessor in ein digitales Signal um. Aus dem können dann einzelne Komponenten, wie die menschliche Sprache, verstärkt, gefiltert, komprimiert und gewichtet werden.
Grundsätzlich unterscheiden Expertinnen und Experten zudem zwei Typen von Hörgeräten:
Bei den sogenannten Im-Ohr-Hörgeräten verschwindet die Technik in der Ohrmuschel oder im Gehörgang. Das ist unauffällig, dafür wird das Ohr weniger gut belüftet. Zudem klingen die eigene Stimme oder Kaubewegungen im Kiefer anfangs oft befremdlich.
Bei den Hinter-dem-Ohr-Geräten wird das eigentliche Hörgerät hinter der Ohrmuschel getragen. Entweder verschließt dann eine sogenannte Otoplastik den Gehörgang. Oder die immer häufiger nachgefragten "offenen Systeme" leiten den Schall dann über einen hauchdünnen Mikroschlauch direkt ins Innenohr.
Bei Zusatzfunktionen bleibt kein Wunsch offen
Zudem bieten die Hörsysteme diverse Zusatzfunktionen: Lithium-Ionen-Akkus, die bis zu 24 Stunden nicht aufgeladen werden müssen. Hörgeräte, die sich über eine App bedienen lassen. Mikrofone in alle Richtungen, leistungsstärkere Prozessoren, einen effektiveren Störschallschutz und Mikrochips, die anhand der Frequenz und Amplitude des übertragenen Schalls erkennen, ob es sich um Sprache oder Lärm handelt.
Technikaffine können via Bluetooth oder Telefonspule per Hörgerät telefonieren oder sich Töne direkt aus dem Fernseher oder der HiFi-Anlage übertragen lassen.
Outdoor-Freaks bietet die Industrie rutschfeste dichte Materialien, die vor Wasser, Staub oder Schweiß schützen.
Doch je ausgefeilter die Technik, desto höher ist der Preis: Die gesetzlichen Krankenkassen zahlen in der Regel pro Hörgerät einen Vertragspreis von 685 Euro, zuzüglich einer Pauschale für individuell gefertigte Ohrstücke und einer Servicepauschale für Reparaturarbeiten.
Wer fast taub ist, bekommt etwa 840 Euro Zuschuss für das Hörgerät.
Für ein zweites Hörgerät ist der Zuschuss geringer. Er kann frühestens nach sechs Jahren beantragt werden. Kommen Zusatzfunktionen hinzu, zahlt der Kunde diese selbst.
Wichtig ist: wieder am Gespräch teilnehmen
Doch wer braucht wirklich ein teures Gerät mit diversen Zusatzfunktionen?
Für einen Ingenieur auf einer Baustelle mag zum Beispiel die Zusatzfunktion des sogenannten Richtungshörens sinnvoll sein: Er muss die Stimme seiner Kolleginnen und Kollegen im Baggerlärm heraushören, aber gleichzeitig mitbekommen, aus welcher Richtung sich ein Baufahrzeug nähert.
Für die meisten - überwiegend älteren - Kunden sind die meisten Zusatzfunktionen jedoch überflüssig. Damit diese Kundinnen ihr Hörgerät tragen, muss vor allem eine Funktion wirklich klappen: Sie sollten die Stimme ihrer Gesprächspartner in einer lauten Umgebung heraushören und verstehen können. So dass sie - wie oft jahrelang geschehen - im Gespräch mit anderen nicht länger außen vorbleiben.
Das authentische Klangerlebnis ist bei der Entwicklung der Hörsysteme hingegen zum Beispiel eher sekundär.
Mit Hilfe eines Hörgeräteakustikers und genauer Testung dort finden Schwerhörige heraus, ob sie Basis-, Mittel- oder Luxusklasse brauchen.
Beitrag von Beate Wagner