Anzeichen, Ursachen und Behandlung - Magersucht bei Jugendlichen: Was können Eltern tun?
Haben Sie Sorgen, Ihr Kind könnte Magersucht haben? Anzeichen von Magersucht und Informationen was Eltern und Angehörige tun können, finden Sie hier.
Die Corona Pandemie hat sich auf die Psyche von einigen Kindern und Jugendlichen ausgewirkt. Das betrifft auch das Essverhalten. So müssen seit Beginn der Corona-Pandemie mehr Kinder und Jugendliche wegen Essstörungen behandelt werden.
Die rbb-Praxis hat mit der Leiterin des Berliner Beratungszentrums Dick und Dünn e.V., Caren Schmidt, über Magersucht gesprochen. Sie erklärt, was erste Anzeichen einer Magersucht sind, was Eltern und Angehörige tun können und was Magersucht so tückisch macht.
Wo ist die Trennlinie zwischen dünn sein oder an Magersucht leiden?
Für die Magersucht, auch Anorexia nervosa genannt, gibt es Diagnosekriterien. Man geht aber zum Beispiel davon aus, dass eine Gewichtsabnahme in sehr kurzer Zeit zu bemerken ist und sich das Essverhalten massiv ändert. Zudem gilt es immer gemeinsam mit dem Kinder- und Jugendarzt zu besprechen, ob es genetische Vorbelastungen in der Familie gibt.
Was sind die ersten Anzeichen einer Magersucht?
Die ersten Anzeichen sind ein verändertes Essverhalten, was sich zum Beispiel darin äußert, dass bestimmte Lebensmittel erst mal weggelassen werden. Heutzutage versteckt sich das veränderte Essverhalten häufig darin, dass zuerst der Wunsch besteht, sich vegetarisch zu ernähren und dann auf eine vegane Ernährung umzusteigen. Das kann ich aus ethischen Gründen auch akzeptieren, es ist aber wichtig, auch das mit dem Kinder- und Jugendarzt zu besprechen. Zudem muss die Eiweißaufnahme, die Eisenspeicherung und der Vitamin B12-Spiegel bei den Jugendlichen kontrolliert werden. Außerdem sollten die Familie und die Angehörigen besprechen, was die Motive für dieses veränderte Essverhalten sind.
Ein weiterer Hinweis ist, dass Kinder und Jugendliche anfangen, ihr Verhalten zu ändern, zum Beispiel sich vermehrt isolieren, mehr im Zimmer zurückziehen und sich weniger verabreden, viele soziale Medien konsumieren und gemeinsame Essenssituationen in der Familie vermeiden. Da werden häufig Ausreden gefunden, warum man nicht an der gemeinsamen Mahlzeit teilnehmen kann. Ein weiterer Hinweis ist, dass der Wunsch besteht, sich fettlos und kalorienarm zu ernähren. Sollten Angehörige erste Anzeichen so einer Veränderung merken, sollten sie sich sofort zur Abklärung und Diagnose begeben.
Im Idealfall handelt es sich um eine pubertäre oder eine normale, im Rahmen des Wachstums vorkommende Veränderung. Sollten doch Anzeichen für eine ernstzunehmende Essstörung vorliegen ist die schnelle Abklärung so wichtig, weil das Zeitfenster von der Entstehung des essgestörten Verhaltens bis hin zur Aufnahme der Behandlung nicht mehr als 1,5 Jahre sein sollte. Bei der Anorexia nervosa ist das Problem, dass sie sich sehr schnell im System der Kinder- und Jugendlichen verankern kann.
Die Jugendgesundheitsuntersuchung J1 (Anm. d. Red.: im Alter von 12-14 Jahren) spielt daher eine wichtige Rolle, deshalb empfehlen wir auch immer, diese beim Kinder-und Jugendarzt durchzuführen. Hier wird unter anderem das Essverhalten abgefragt und es können erste Anzeichen einer Essstörung erkannt werden.
Was können Eltern und Angehörige tun?
Es ist wichtig, so offen wie möglich zu kommunizieren. Dabei sollte die Familie so wenig Anspielungen wie möglich auf die Figur und das Gewicht machen, sondern zum Beispiel sagen, wir haben bemerkt, beziehungsweise wir nehmen wahr, dass du dünner geworden bist.
Das reicht erst mal, weiter sollten sie nicht darauf eingehen. Das kann die Anorexia sonst noch weiter aufrecht erhalten, weil das Ziel ist es ja, so dünn wie möglich zu werden. Wichtig ist, mit dem betroffenen Kind oder Jugendlichen weiter im Gespräch zu bleiben und zu sagen, wir bieten uns an, wir gehen jetzt zu unserer behandelnden Ärztin und von da gucken wir weiter.
Oder man geht zu einer externen Fachstelle für Magersucht, weil von Angehörigen Hilfe anzunehmen ist gerade in der Pubertät schwierig. Außerdem sollten sich die Eltern beraten lassen und das auch den Kindern so kommunizieren. Wenn wirklich die Diagnose einer Magersucht vorliegt, müssen Experten entscheiden, ob eine ambulante Therapie möglich ist oder ob ein stationärer Aufenthalt angebracht ist.
Was sind die Gründe für eine Magersucht?
Mittlerweile geht man von neurobiologischen Erkenntnissen und den genetischen Vorbedingungen aus, das heißt wenn in den Generationen vorher bei Vater oder Mutter auch schon Essstörungen oder zwanghaftes Verhalten vorhanden waren, Leistungsoptimierung und Perfektionismus häufiger in den Familien eine große Rolle spielt, dann ist das Risiko, selber daran zu erkranken deutlich höher als in Familien, wo das gar keine Rolle spielt.
Zudem liegt immer eine Selbstwertstörung vor. Eine Essstörung, egal welchen Typs, entwickelt sich immer, wenn das Kind oder die Jugendliche verunsichert ist. Das kann aus unterschiedlichsten Gründen stattfinden, zum Beispiel ein Klassenwechsel, die Familie zieht um, oder wenn ein Großelternteil stirbt.
Auch die Pubertät als solches ist ein Risikofaktor. Vor allem Mädchen in der Adoleszenz haben ein erhöhtes Risiko, weil die hormonelle Umstellung, die Veränderung des Körpers als solches, sehr unterschiedlich und manchmal auch als krisenhaft wahrgenommen wird. In dieser Phase ist das Vergleichen ein großes Thema, da reicht schon ein Kommentar, dass der Hintern dick geworden ist, und manchmal reicht es sogar auch aus, dass über die Figur eines anderen gesprochen wird.
Liegt bereits eine Selbstwertstörung vor, kommen solche kleinen Puzzleteile noch dazu. Das alles kann eine schwere Essstörung hervorrufen. Das gemeine an dieser Erkrankung ist, dass sie sehr schnell chronisch werden kann und dem Betroffenen das Gefühl vermittelt, dass er alles unter Kontrolle habe.
Was passiert im Körper und im Gehirn?
Das ist die sogenannte Körperschemastörung und auch häufig die Hyperaktivität, die sich mit einer erhöhten Gewichtsabnahme einstellt. Es gibt bei der Anorexia Nervosa zwei Typen:
Man spricht entweder von dem restriktiven Typus, das heißt, es werden immer mehr Lebensmittel weggelassen und das Ziel ist die radikale Gewichtsabnahme.
Beim zweiten Typ sprechen wir von dem Purging-Typ, da wird vermehrt Sport getrieben, es werden Abführmittel eingesetzt, manchmal ist auch bulimisches Verhalten mit dabei, das heißt es wird nach der Nahrungsaufnahme wieder erbrochen.
Man spricht von einer Mangelernährung, einer Veränderung im hormonellen System, bei der das Leptin, das in den Fettzellen gebildet wird, eine große Rolle spielt. Das wirkt sich alles auf das Denken aus.
Viele Eltern fragen sich dann auch, wie das sein kann. Sie sehen, dass ihr Kind immer weiter abnimmt, die Knochen überall zu sehen sind, und das Kind nimmt es komplett anders war. Wir gehen davon aus, dass das biochemische Prozesse sind, die den Betroffenen es nicht mehr ermöglichen, sich real wahrzunehmen.
Was macht den Suchtfaktor aus?
Das ist das Kontrollgefühl. Es entwickeln sich dann oft innere Stimmen, die sagen, jetzt musst Du das noch weglassen, oder jetzt hast Du zu viel gegessen. Das sind auch wieder diese neurobiologischen Prozesse, die den Eindruck erwecken, dass ich durch die Gewichtsabnahme alles unter Kontrolle habe. Eigentlich hat aber die Anorexia nervosa die Kontrolle.
Autonomie und Kontrolle als innerer Konflikt
Essstörungen haben auch etwas mit dem Wunsch nach eigener Kontrolle und Autonomie zu tun. Wie schwer ist es dann für Betroffene, Hilfe von außen anzunehmen?
Das ist ein innerer Konflikt. Deshalb ist die sogenannte Psychoedukation von Angehörigen ganz wichtig, wo sie über die Krankheit aufgeklärt werden. Es hat sich sehr bewährt, dass die Eltern zum Beispiel im Rahmen einer systemischen Familientherapie oder in einer Angehörigen-Gruppe über das Störungsbild aufgeklärt und beraten werden. Wir sagen zum Beispiel immer, dass die Angehörigen auch schauen sollen, was hat den Jugendlichen vor der Essstörung ausgemacht, was sind die Stärken und Fähigkeiten und genau darauf wieder mehr den Fokus legen sollten. Die Eltern müssen ihren Kindern immer wieder sagen, die Anorexia nervosa nimmt dir die Freiheit, die gaukelt dir Unabhängigkeit und Kontrolle vor. Eltern müssen klare Ansagen machen und gleichzeitig schauen, in welchem Rahmen Autonomie möglich.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Laura Will.