Mann auf Wiese hält Kopf in den Händen (Bild: unsplash/Francisco Gonzalez)
Bild: unsplash/Francisco Gonzalez

Interview l Hilfe bei Depression - Psychisch Kranke stärken: "Mein Beispiel zeigt, dass es gehen kann"

Wer in Deutschland ambulante psychotherapeutische Hilfe sucht, wartet derzeit durchschnittlich 24 Wochen auf einen Therapieplatz. Fast ein halbes Jahr. Zu lange, findet Annegret Corsing. Sie hat mit dem sozialen Unternehmen "die erfahrungsexpert*innen" ein Hilfsangebot entwickelt, das diese Wartezeit überbrücken will. rbb Praxis-Autorin Ursula Stamm hat mir ihr gesprochen.

Frau Corsing, was ist das Konzept/die Idee von "die erfahrungsexpert*innen"?
 
Unser Ansatz war von Anfang an, nicht die rein psychologische Sicht von außen auf die Teilnehmenden zu richten, sondern von und mit Menschen zu arbeiten, die psychische Krisen selbst erlebt haben.

Wir wollen unsere Erfahrungen teilen und dadurch auf "Augenhöhe" mit den Teilnehmenden kommunizieren. Da sitzt dann einer Person jemand gegenüber, von der sie weiß: Diese war auch mal an dem Punkt oder hat ganz Ähnliches erlebt. Und das schafft eine besondere Basis.

Wir richten uns prinzipiell an Menschen mit verschiedenen psychischen Erkrankungen. Es zeichnet sich jedoch ab, dass von dieser Art des kognitiven und emotionsregulierenden Trainings, wie wir es anbieten, vor allem Menschen mit Depressionen oder Angststörungen profitieren.
 
Die "erfahrungsexpert*innen" gibt es seit zweieinhalb Jahren und wir arbeiten inzwischen auch bundesweit, mit insgesamt 40 Mitarbeitenden und Trainer*innen in unserem Netzwerk.

Was bieten Sie den Hilfesuchenden konkret an?
 
Ein wichtiger Teil unserer Arbeit ist das so genannte "Recovery"-Programm, das sich vor allem an Menschen mit psychischen Problemen richtet, die auf einen ambulanten Therapieplatz warten. Dieses Programm findet in Gruppen über zehn Wochen statt - derzeit allerdings nur online, sonst natürlich mit wöchentlichen persönlichen Treffen.
Dabei geht es darum, bei den Teilnehmenden eine Grundstabilisierung zu schaffen oder beizubehalten. Das gilt zum Beispiel auch für Menschen, die aus einer Klinik kommen und noch keinen ambulanten Therapieplatz haben. Da geht es auch darum, dass das, was sie sich erarbeitet haben, nicht wieder verloren geht.
 
In diesem Programm arbeiten wir viel mit Achtsamkeitstraining und Übungen im Selbstmitgefühl, sowie der Stärkung der psychischen Widerstandskraft (Resilienz). Das tun wir mit emotionsbasierten Methoden, wo wir schauen: Wie können wir Gefühle annehmen, bearbeiten und auch regulieren?
 
Ein anderer Ansatz ist die Peer-Beratung, das heißt, Betroffene beraten Betroffene. Dieses findet in Berlin - auch jetzt in Coronazeiten - vor Ort statt, in Zusammenarbeit mit einer psychosozialen Kontakt- und Beratungsstelle des Trägers "Albatros" in Berlin.

Wie gut funktioniert zum Beispiel das "Recovery"-Programm unter Corona-Bedingungen, online?
 
Wir sind positiv überrascht von dem Effekt. Menschen sagen schon am Ende der ersten Stunde: "Ich war ganz skeptisch, wie das funktionieren kann, online und ob man da eine Beziehung aufbauen kann. Und ich kann jetzt schon sagen, dass ich mich jetzt wie in einer guten Gruppe fühle". Das finde ich schon erstaunlich, wie gut das auch online funktioniert.

Wo sind die Grenzen Ihrer Arbeit? Welche Anfragen müssen Sie ablehnen?
 
Es muss schon eine gewisse Grundstabilität bei den Hilfesuchenden vorhanden sein. Wir können keine akute Krisenintervention leisten, dafür sind andere Stellen zuständig. (Anm. d. Red.: Siehe Infobox "Infos im Netz")
Aber wir können helfen, eine Grundstabilität zu erhalten, die nachgewiesenermaßen, wenn Menschen diese Begleitung nicht bekommen, wieder schlechter wird. Unsere Mitarbeitenden ihrerseits müssen sich so stabil fühlen, dass sie nicht selbst durch die Schilderung, etwa von traumatisierenden Situationen der Hilfesuchenden, in Schwierigkeiten geraten.
 
Dafür haben wir aber auch Supervisor*innen und sind ständig in Kontakt mit professionellen Kolleg*innen, zum Beispiel aus den Kliniken und den Beratungsstellen.

Wie ist die Idee zum Projekt "die erfahrungsexpert*innen" entstanden?
 
Ich habe lange als IT-Beraterin gearbeitet und hatte dann in meinem Leben die zweite schwere psychische Krise und wollte etwas anderes machen. Ich wollte vor allen Dingen mehr mit Menschen arbeiten und mich hat das Thema "Psychologie" auch schon immer interessiert.
 
Hinzu kommt, dass ich selbst betroffen bin. Seit meiner Jugend - ich bin heute 42 Jahre alt - hatte ich immer wieder mit Depressionen, Angststörungen und einer Essstörung zu kämpfen. Ich hatte mehrere kleine, aber auch zwei ganz große Krisen in meinem Leben, in denen ich auch längerfristig aus dem Beruf aussteigen musste.
Nach der letzten schweren Krise habe ich mich soweit stabilisiert, dass ich das aktiv weitergeben kann. Ich weiß inzwischen, was das für eine Stärke ist, die ich mir da erarbeitet habe. Nicht nur für mich selber, sondern auch für andere. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, eine Hoffnung zu sein, für andere, die gerade in einer Krise stecken und vielleicht auch für die Angehörigen, die dann sagen: 'Guck mal, es gibt da Menschen, die hatten auch schwere Probleme und haben es geschafft'.
 
Menschen mit psychischen Problemen leiden heutzutage immer noch darunter, dass sie einen "Stempel" aufgedrückt bekommen, der sagt: einmal psychisch krank, immer psychisch krank. Aber das muss nicht sein.

Was hat Ihnen persönlich bei der Bewältigung Ihrer psychischen Krisen geholfen?
 
Das sind genau die Dinge, die ich heute weitergebe, in meinen Kursen und in meiner Arbeit. Es ist ganz viel Achtsamkeitstraining. Es hat ganz viel damit zu tun, Selbstmitgefühl zu lernen. Zu lernen, selbst nett zu sich zu sein, gerade wenn es einem schlecht geht.
Wir neigen dazu, zu uns selber ganz schön gemein zu sein, wenn es uns sowieso schon nicht gut geht, was wir mit jemand anderem nicht machen würden. Da geht es ganz viel darum, diesen liebevollen, mitfühlenden Umgang mit sich selbst zu finden.
 
Dazu gehören auch Resilienz-Methoden, also Akzeptanz zu üben, eine optimistische Perspektive einnehmen zu können und Verantwortung zu übernehmen für die eigenen Gefühle. Gerade beim Thema Resilienz, also der psychischen Widerstandkraft, ist das ein lebenslanges Lernen. Es ist nicht so, dass man irgendwann so resilient ist, dass nichts mehr an einen herankommt. Vielmehr nehme ich von jedem Kurs, den ich gebe, immer noch selber etwas mit. Das heißt, ich lerne auch immer wieder ganz viel von den Teilnehmenden.

Gibt es bei den "erfahrungsexpert*innen" eine verstärkte Nachfrage aufgrund der Belastungen durch die Corona-Pandemie?
 
Unsere Wartelisten waren eigentlich schon immer sehr lang und sehr voll. Ich weiß aber zum Beispiel von der Psychotherapeutenkammer, dass die Nachfrage nach Psychotherapie im Vergleich von Januar 2020 zu Januar 2021 stark angestiegen ist.
 
Dazu trägt sicherlich die Corona-Pandemie bei; dass die sowieso schon zu knapp bemessenen Therapieplätze jetzt auch noch von Menschen angefragt werden, die aufgrund der Corona-Pandemie psychische Probleme entwickelt haben. Oder bei denen sich eine Erkrankung, die eigentlich gut behandelt war, durch die Umstände wieder verschlimmert hat.
Die Wartezeiten für einen Therapieplatz in der Klinik sind tendenziell kürzer. Aber es ist natürlich auch eine große Hürde für Menschen, die eigentlich eine ambulante Therapie wollen und sich dann für eine mehrwöchige Therapie in einer Klinik entscheiden sollen.

Was für Folgen hat es, wenn Menschen zu lange auf einen Therapieplatz warten müssen?
 
Die psychische Krise kann sich verschlimmern oder bereits erreichte Therapieerfolge können sich wieder zurückbilden. Ich habe ja selbst erlebt, wie es ist, wenn man auf einen Platz wartet. Da stellte sich auch bei mir eine große Verzweiflung ein, weil ich ja Hilfe brauchte und die war nicht da. Und wenn ich dann nur noch die Wahl habe, zwischen wochenlangem Warten oder gleich stationär aufgenommen zu werden, dann ist das sehr belastend. Und das gilt natürlich auch für fast alle, die bei den"erfahrungsexpert*innen" Hilfe suchen.

Wie finanzieren sich die "erfahrungsexpert*innen" und was kostet die Beratung bei Ihnen?
 
Wir finanzieren uns zum Teil über Fördergelder, haben aber auch wirtschaftliche Einnahmen. Das heißt, ein Teil der Kurse ist kostenpflichtig, zum Beispiel die Fortbildung für Erfahrungsexpert*innen, aber auch Präventionskurse, die allerdings von den Gesetzlichen Krankenkassen bezuschusst werden können.
 
Die "Recovery"-Kurse, für Menschen, die sich in Wartezeit auf einen ambulanten Therapieplatz befinden, sind kostenfrei; das gilt auch für die Peer-Beratung.

Gibt es auch bei den "erfahrungsexpert*innen" Wartezeiten?
 
Was die Teilnahme an den "Recovery"-Kursen angeht schon. Da hängt es von den Fördergeldern ab, wann wir einen neuen Termin anbieten können. Es sind ja immer zehn Teilnehmende in einer Gruppe über zehn Wochen lang. Um zum Beispiel eine neue Gruppe aufzumachen, müssen wir Fördergelder - zum Beispiel von Stiftungen - einwerben. Dafür müssen Anträge gestellt werden und je nachdem wie gut man damit durchkommt, können wir neue Termine anbieten.
 
Es war sogar schon mal so, dass das Programm von Krankenkassen unterstützt wurde; das war aber noch die Zeit, wo das Konzept komplett im Selbsthilfebereich angeboten wurde. Wir sind mit den "erfahrungsexpert*innen" in einer Art Zwischenbereich:
Wir sind keine reine Selbsthilfe, weil wir auch professionelle Trainingsprogramme anbieten, wir sind aber auch keine Psychotherapeuten oder Psychotherapeutinnen. Das macht die Einordnung für die Gesetzlichen Krankenkassen schwierig.
 
Ich würde mir aber schon wünschen, dass die Kassen die Kosten übernehmen, weil wir ja eine bestehende Versorgungslücke schließen und damit den Kassen im Endeffekt auch Geld sparen.

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Welche niederschwellige Hilfsangebote gibt es noch, die Menschen in psychischen Krisen helfen können?
 
Es gibt inzwischen Apps, die auch von den Gesetzlichen Krankenkassen gezahlt oder bezuschusst werden und mit denen die Zeit bis zum Therapiebeginn überbrückt werden soll. Eine andere Möglichkeit kann es sein, nach Gesundheitskursen zu Resilienz oder Achtsamkeit zu schauen, die zum Beispiel Volkshochschulen oder Krankenkassen anbieten.
 
Was ich noch sehr wichtig finde und was viele Menschen gar nicht kennen, sind die Angebote der psychosozialen Kontakt- und Beratungsstellen in den Bezirken. Dort gibt es eine kostenlose psychosoziale Beratung, aber auch Hilfe bei der Bewältigung des Alltags sowie Gruppenangebote für Menschen, die Kontakt suchen. Auch wenn das jetzt in Corona-Zeiten leider etwas eingeschränkt ist.

Danke für das Gespräch, Frau Corsing!
Das Interview führte Ursula Stamm

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