(Bild: rbb/Gordon Muehle)
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Tatort: Vier Leben - Drehbuchautor Thomas André Szabó und Regisseur Mark Monheim im Gespräch

"Vier Leben" basiert auf tatsächlichen Ereignissen. Gab es unter dieser Voraussetzung einen besonderen Reiz für Sie beim Schreiben des Drehbuchs?

Thomas André Szabó: Für diesen "Tatort" war schnell klar, dass das politische Berlin, die große Bühne nationaler und internationaler Verstrickungen, der Ort des Geschehens sein würde. Denn auf dem politischen Parkett geht es um etwas, das man mit Geld nicht kaufen kann: Macht. Das weckt Begehrlichkeiten und bietet damit einen fruchtbaren Nährboden für einen Krimi. Sofort drängen sich Fragen auf: Wie halten wir es eigentlich mit unseren Werten? Was ist mit den Menschen, die von diesen Machtspielen direkt betroffen sind?

Mitten in diese Überlegungen hinein geschah das für unmöglich Gehaltene: der Abzug der NATO aus Afghanistan. Eine Entscheidung, die all diese Fragen plötzlich auf einen einzigen Punkt in der Geschichte verdichtete und die Möglichkeit eröffnete, die Betroffenen, die in Deutschland längst Teil der politischen Debatte waren, in den Mittelpunkt des Films zu rücken. Denn die Bundesregierung hat mit dem NATO-Abzug das Versprechen gebrochen, die Ortskräfte und ihre Familien vor den Taliban zu schützen. Gleichzeitig wurden die eigenen Soldatinnen und Soldaten politisch allein gelassen mit der Verantwortung für Menschen, die ihnen ans Herz gewachsen waren.

Was wäre wirkliche Gerechtigkeit für diese Menschen? Wie können wir das in eine Geschichte übersetzen, sodass die Konsequenzen für uns als Gesellschaft deutlich werden? Die Idee, die realen Ereignisse mit einem fiktiven Untersuchungsausschuss zu einer Afghanistan-Delegation zu verknüpfen, war geboren. Denn nun konnten wir in Berlin die damit verbundenen Fragen stellen: Welche Verantwortung tragen wir als eine der größten Volkswirtschaften, wenn wir unsere wirtschaftlichen und politischen Interessen in der Welt verfolgen? Wo bleiben die Menschen dabei, die für den Traum von Freiheit und Gerechtigkeit ihr Leben, das Schicksal ihrer Familien, auch in unsere Hände gelegt haben? Vor allem aber: Wer trägt die Verantwortung, wenn der Rechtsstaat selbst sein Versprechen bricht?

(Bild: rbb/Gordon Muehle)
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Wie sieht in diesem Fall das Verhältnis von knallharter Recherche und künstlerischer Freiheit aus?

Thomas André Szabó: Die Verantwortung ist groß, den realen Ereignissen und den davon betroffenen Menschen gerecht zu werden und sich gleichzeitig so weit von der Realität zu entfernen, dass die Erzählung nicht kolportagehaft die Rechte realer Personen verletzt oder sie in ein schlechtes Licht rückt. Verena Veihl hat als Redakteurin immer wieder den Blick dafür geschärft, wo wir verantwortungsvoll mit recherchierten Details umgehen müssen und gleichzeitig den Kern der Erzählung gestärkt. Der Anspruch von Mark und mir als kreativen Köpfen, aber auch des erstklassigen Ensembles war es, für alle Charaktere eine gründlich recherchierte, realitätsnahe Grundlage zu finden, um dem Publikum trotz der notwendigen Fiktionalisierung einen glaubhaften Blick in eine Welt zu ermöglichen, von der die meisten von uns vermutlich wenig wissen. Dabei war es immer wichtig, nicht in die Falle eines Betroffenheitsfilms zu tappen, sondern den Figuren eine starke, manchmal auch streitbare Haltung zum Thema zu geben.

Je besser man die Lebenswelten der Figuren kennt, je mehr man versteht, was sie bewegt, beschäftigt und antreibt, desto lebendiger werden sie auch im Entwicklungsprozess. Die künstlerische Freiheit wird von der Recherche beflügelt und man kommt den Figuren wirklich nahe. Das gilt übrigens auch für die Ermittler, wofür ich der Mordkommission des LKA Berlin sehr dankbar bin. Denn wir hatten die einmalige Gelegenheit, über weite Strecken der Entwicklung dieser Geschichte immer wieder intensive Gespräche mit den leitenden Ermittlern zu führen, deren Inhalte weit über diesen Film hinaus von unschätzbarem Wert sein werden.

(Bild: rbb/Gordon Muehle)
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Was war für Sie besonders wichtig für die Dynamik des Ermittlerduos Bonard und Karow?

Mark Monheim: Die Augenhöhe zwischen den beiden. Karow hat in diesem Tatort viele dynamische, spannungsgeladene Szenen, er darf impulsiv und provokativ sein, er ist dort wo geschossen wird und Scheiben splittern. Bonard kommuniziert viel mit den Kollegen im Team, ordnet die Ermittlungsergebnisse, agiert viel kontrollierter und sachlicher als Karow. Das fühlte sich erstmal wie eine Unwucht an. Aber im Laufe des Films wirkt Karow immer manischer, während sie die Nerven behält, Einflussnahmeversuche klug zu nutzen weiß, um die Ermittlungen voranzubringen. Und obwohl sie von Sorayas Schicksal tief bewegt ist, setzt sie die traumatisierte Frau massiv unter Druck, um den Täter zu stoppen. Karow und Bonard sind sehr unterschiedliche Temperamente. Er ist der Instinktermittler, der spontan handelt, Bonard ist systematischer, rationaler aber ebenso angetrieben von einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Die beiden respektieren sich und sind loyal zueinander.

Corinna und Mark hatten kurz zuvor einen sehr emotionalen und aufwühlenden Fall abgedreht, "Am Tag der wandernden Seelen" von Mira Thiel. Daneben erschien ihnen "Vier Leben" erst einmal sehr dialoglastig und handlungsgetrieben. Die Kommissare wirken gehetzt, sie kommen immer wieder zu spät, laufen den Ereignissen hinterher, rätseln, worum es in diesem Fall eigentlich geht ... Die Leseproben waren wahnsinnig wichtig. Corinna und Mark kennen ihre Figuren einfach sehr gut. Ihre Art zu sprechen, ihre Eigenheiten, ihr Temperament. Thomas und ich haben nach den Leseproben ganze Passagen umgeschrieben, weil so starke Impulse von den Schauspielern kamen. Unser Editor Patrick Wilfert hat sehr viel mit der Unterschiedlichkeit der beiden Kommissare gearbeitet. Es ist ja immer eine Qual der Wahl, auf wen man in welchem Moment schneidet, wenn man mit Schauspielern arbeitet wie Corinna und Mark, auf die du immer schneiden kannst. Welchen Akzent betont man, welchen lässt man weg, wer ist im Fokus? Man kann ein und dieselbe Szene auf so viele unterschiedliche Arten schneiden. Das ist für mich das Faszinierende am Filmemachen, dieser ganze Prozess mit Tausenden von Entscheidungen, mit so vielen Beteiligten, diese Komplexität. Wenn dann am Ende alle Teile ineinandergreifen und ein Ganzes ergeben, das dem Drehbuch gerecht wird, dann hat sich der ganze Aufwand gelohnt.

(Bild: rbb/Gordon Muehle)
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"Vier Leben" ist auf der einen Seite ein politischer Thriller mit großen Spannungsbögen und erzählt auf der anderen Seite auch sehr persönliche und tragische Geschichten – wie ist es Ihnen gelungen, dies zu verbinden?

Mark Monheim: Thomas hatte das im Buch schon sehr klar angelegt. Ich habe bei Soraya sofort an Pegah Ferydoni gedacht, mit der ich meinen letzten Film gemacht hatte. Ich war mir sicher, dass Pegah dieser, mit wenigen kurzen Szenen gezeichneten Figur die Intensität verleihen kann, die es brauchte, um der Spannung um Karow und das vierte Opfer etwas entgegenzusetzen.

Die Vernehmungsszene zwischen Corinna und Pegah live zu erleben, war beklemmend. Alle waren gebannt. Weil Marcello und ich ein Kamerakonzept mit vielen Kamerafahrten entwickelt hatten, mussten wir sehr durchgetaktet und präzise geplant drehen und das schränkt natürlich die Freiräume für die Schauspieler ein. Wenn dann eine solche Szene kommt, die minutenlang durchgespielt wird, wo alle den Atem anhalten und man eine Stecknadel fallen hören würde, dann ist das sehr eindringlich. Man geht an solchen Tagen glücklich und zufrieden nach Hause. Spannung und Action kann man mit vielen Mitteln erzeugen, aber der Kern einer Geschichte liegt in Momenten wie diesem.

Stand für Sie von vorneherein fest, die Spannung der Geschichte durch den enormen Zeitdruck einer "ticking clock" zu verstärken?

Thomas André Szabó: Es bietet sich an, den Ablauf eines Films, in dem es einen aktiven Täter gibt, aus dessen Perspektive zu durchdenken. Dazu gehört das Kalkül, dass Überforderung der Polizei und extremer Handlungsdruck hilfreich sind, um Chaos zu stiften und unentdeckt zu bleiben. Etwas, das einen sehr schnell auf einen begrenzten Zeitrahmen bringt, denn wechselt man die Perspektive zu den Ermittlern, wird schnell klar: Wir müssen ihn so schnell wie möglich stoppen.

Erfahrene Ermittler wie Bonard und Karow wissen, dass in einer solchen Situation forensische Methoden zu zeitaufwändig sind und die wenigen Spuren, die man findet, schnell verwischt werden. Sie werden zurückgeworfen auf handfestes Ermittlungshandwerk und zwischenmenschliches Feingefühl. Nur wenn sie wie ein Uhrwerk funktionieren, werden sie den Fall lösen. Was jede noch so kleine Reibung zwischen ihnen zu einer emotionalen Angelegenheit macht – denn jede Bewegung, die man macht, könnte sich als Sackgasse erweisen. Etwas, das man sich unter keinen Umständen erlauben darf.

Der Täter schafft bewusst eine Situation, die seinen Opfern vor Augen führen soll, was die Menschen, die er liebt, erleiden mussten: Nie zu wissen, wo der Tod lauern könnte. Eine für uns in Deutschland selbstverständliche Realität verkehrt er in ihr extremes Gegenteil, nämlich: in Sicherheit zu leben. Die "ticking clock" in "Vier Leben" ist deshalb eng verflochten mit dem emotionalen Trauma des Täters.

(Bild: rbb/Gordon Muehle)
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Was war die Herausforderung an der Inszenierung einer so komplexen Geschichte? Wo lagen Ihre Schwerpunkte?

Mark Monheim: Die größte Herausforderung war ehrlich gesagt das Budget. Ich mochte das Buch von Anfang an, weil "Vier Leben" kein typischer Whodunit-Krimi sondern ein Politthriller mit internationaler Backstory ist, der an einem einzigen Tag spielt. Ich mochte den Fokus der Redakteurin Verena Veihl, den Berliner "Tatort" politischer zu machen. Aber die Verortung im Berliner Regierungsviertel, die Dimensionen der Ereignisse, teilweise zeitgleich an unterschiedlichen Orten – so etwas sprengt schnell ein Fernsehfilmbudget.

Innenstadt-Locations, Einsatzfahrzeuge, Komparsen, Sonderkommandos, das kostet alles wahnsinnig viel Geld. Wir mussten vieles einsparen, was im Buch beschrieben wurde und Wege finden, wie wir die Dimensionen trotzdem andeuten können, damit dieser äußere Druck auf die Kommissare entsteht. Der Staatsbesuch zum Beispiel, der nur über Radionachrichten, Dialoge und zwei englischsprechende Komparsen erzählt wird und der dann sogar zur Lösung des Falles beiträgt. Oder der Showdown. Wie erzählt man einen Großeinsatz mitten in Berlin, ohne unzählige Fahrzeuge und Komparsen, Waffen, Absperrungen? Als Thomas auf die Idee kam, das Finale in die Tiefgarage zu verlegen, war das der Durchbruch. Es war natürlich ein Riesendruck, aber es hat auch Spaß gemacht, Lösungen zu entwickeln, wie die Tauben, die auffliegen, als der erste Schuss im Film fällt. Die hat unsere Außenrequisite stundenlang mit Futter angelockt, um diesen wirkungsvollen, aber preisgünstigen Effekt möglich zu machen.

Kameramann Jan-Marcello Kahl hat großen Anteil daran, dass der Film so stark wirkt. Er hat viele Ideen entwickelt, um mit einfachen Mitteln große Effekte zu erzielen – zum Beispiel die rauchenden Autowracks auf dem GSG9-Übungsgelände und die Schattenrisse von Karow und dem GSG9-Ausbilder, um atmosphärische Bilder zu schaffen, die zu den Archivaufnahmen aus Kabul passen. Szenenbildner Thomas Pfau hatte die Idee, Stadtschloss und Dom als Motive zu nutzen – im Buch war das eigentlich ein Luxushotel. Der Dreh auf dem Dach des Doms war ein unvergessliches Erlebnis. Überhaupt so viel auf Dächern unterwegs zu sein und die Stadt von oben zu sehen, das hat großen Spaß gemacht.

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