Down Syndrom, Autismus & Co. - Arztbesuch: Wie behandelt man bei geistiger Behinderung?
Der Arztbesuch von Menschen mit geistiger Behinderung, mentaler Einschränkung oder Beeinträchtigung, z. B. bei Trisomnie 21, kann kompliziert werden. Was hilft?
Manchmal können sie sich nicht klar artikulieren, Schmerzen anzeigen, Fragen oder Anweisungen verstehen oder verhalten sich für ihr Umfeld irritierend: Menschen mit schwerer geistiger Beeinträchtigung oder mehrfacher Behinderung stellen die medizinische Versorgung oft vor Herausforderungen.
Auch in einem so hoch entwickelten Gesundheitssystem wie in Deutschland gibt es darum bei der Behandlung Probleme, z. B. wenn es um Menschen mit Down Syndrom, Autismus oder Gruppen mit geistiger Behinderung geht. Vor allem, weil es immer wieder am Faktor Zeit bei der Behandlung fehlt.
Im Medizinischen Behandlungszentrum für Erwachsene mit Behinderungen (MZEB) Berlin-Nord sind Ärzte genau darauf spezialisiert. Die rbb Praxis hat mit dem Leiter des Zentrums, PD Dr. Nils Freundlieb, über Herausforderungen in seinem Berufsalltag gesprochen.
Typische Herausforderungen
Was sind typische Herausforderungen, wenn ein Mensch mit geistiger Beeinträchtigung zum Arzt geht?
Das Problem fängt schon bei der Definition von geistiger Behinderung und Beeinträchtigung an. Da kann jemand zum Beispiel nur eine Lernbehinderung haben und eigentlich gut im Alltag zurecht kommen oder die geistige Behinderung kann so schwer sein, dass der Betroffene auf eine feste Betreuung angewiesen ist.
Das sind letztlich diejenigen, mit denen wir in unserem medizinischen Behandlungszentrum für Erwachsene mit Behinderung, im MZEB, zu tun haben.
Da ist die Herausforderung sehr groß, weil die Menschen uns erst mal finden müssen, also wissen, dass es uns gibt. Das geht meistens über die Angehörigen oder deren rechtliche Betreuer.
Diejenigen, die einen geringere Behinderungsgrad haben, werden regulär von Fachärzten versorgt, die im ambulanten oder stationären Umfeld zu finden sind.
Oft scheitert es im regulären Versorgungssystem allerdings schon daran, dass Menschen die Treppe zur Arztpraxis nicht hochkommen, weil sie nicht barrierefrei ist.
Andere wiederum verhalten sich im Wartezimmer so auffällig, dass niemand bei ihnen sitzen will oder sie erst gar nicht ins Wartezimmer gelassen werden.
Krankheitsbilder
Mit welchen Krankheitsbildern kommen Patienten zu Ihnen?
In Berlin gibt es aktuell nur drei medizinische Versorgungzentren für Menschen mit Behinderung. Wir haben hier leider sehr hohe Zugangsbeschränkungen.
Das heißt, zu uns kommen ausschließlich Patienten, die einen Grad der Behinderung von größer 70 haben und gleichzeitig eine geistige Behinderung, also eine Beeinträchtigung, die die Teilhabe am sozialen Alltag erschwert. Diese Zugangskriterien werden streng überprüft.
Krank mit geistiger Behinderung - was tun?
Mal ein Besipiel: Ein Mensch mit geistiger Beeinträchtigung erkrankt an einer Grippe. Wo geht der hin?
Alle unsere Patienten benötigen einen Hausarzt, der für solche Sachen zuständig ist. Denn ohne eine spezielle Überweisung dürfen geistig beeinträchtige Menschen gar nicht zu uns kommen. Das ist sehr ärgerlich und diskriminierend, weil wirklich einzelne Diagnosen festgelegt sind, mit denen Patienten zu uns kommen dürfen.
Hat ein geistig beeinträchtigter Mensch zufällig eine andere Diagnose, die nicht vorgesehen ist, dürfen wir ihn nicht behandeln, beziehungsweise können wir es nicht abrechnen. Das ist eine Frechheit.
Ausbildung: Welcher Arzt/welche Ärztin soll es sein?
Muss ein Arzt speziell ausgebildet sein oder kann jeder Arzt aufgesucht werden?
Eigentlich sollte es so sein, dass sie zu jedem Arzt können. Allerdings braucht zum Beispiel ein Gynäkologe besonders viel Zeit und ein ruhiges Umfeld.
Wenn jemand schwerstbehindert ist und schon das Problem hat, auf den Behandlungsstuhl zu kommen, wird es nicht klappen.
Ein Augenarzt und ein Zahnarzt brauchen häufig noch eine beruhigende Medikation, bevor die Untersuchung in Ruhe stattfinden kann. Das können viele Ärzte, aber viele eben auch nicht.
Deswegen versuchen wir ein Netzwerk aufzubauen, aus dem heraus wir Patienten auch Empfehlungen aussprechen für spezialisierte Ärzte.
Auf was müssen Angehörige bei der Arztsuche achten?
Letztlich ist es wichtig, dass man ein gutes Verhältnis mit dem Arzt entwickelt und man den Eindruck hat, dass die Sorgen und Nöte des Patienten wahrgenommen werden.
Häufig ist das eine Sache, die Zeit braucht. Dafür braucht es oft mehrere Termine. Manchmal liegt man als Arzt auch falsch und muss noch mal nachjustieren, weil man das Problem nicht klar sehen oder erfragen kann.
Realitätscheck
In der Realität stelle ich mir das schwierig vor ...
Ja. Es war lange Zeit so, dass Menschen mit einer komplexen Behinderung im Gesundheitssystem hintenübergefallen sind. So lange sie noch im Kindes- und oder Jugendalter sind, gibt es schon seit den 80er Jahren spezialisierte Zentren, die sogenannten Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ). Von den gibt es über 160 in Deutschland.
Wenn Patienten über 18 oder 21 geworden sind, sind sie aus einem sehr behüteten, medizinischen Kontext herausgefallen und in der harten Realität des Erwachsenenseins aufgewacht. Da hat der Gesetzgeber 2015 nachjustiert und mit dem Paragraph 119c im SGB V die Errichtung der Medizinischen Zentren für Erwachsene mit Behinderungen erlaubt.
Behandlung: Was läuft anders bei geistig beeinträchtigten Menschen?
Was müssen Sie bei Ihrer Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung anders machen?
Vor allen Dingen brauchen wir viel mehr Zeit. Viele unserer Patienten können ihre eigenen Sorgen und Schmerzen gar nicht eigenständig schildern. Hier sind wir auf die Schilderungen des Umfelds angewiesen, das heißt, wir müssen uns darauf verlassen, dass diejenigen, die den Patienten betreuen, genau schildern, was los ist.
Wir müssen sehr ausführlich untersuchen und oft auch noch zusätzliche Untersuchungen durchführen, die wir bei jemandem, der normal die Beschwerden schildern kann, nicht machen müssten.
Wie kommuniziert man bei mentaler Beeinträchtigung?
Das Stellen der Diagnose ist eine Sache. Aber wie wie kommunizieren sie mit Ihren Patienten und wie vermitteln Sie Ihnen die Diagnose?
Das ist für mich im Alltag keine schwierige Herausforderung. Wenn ich einem Patientenohne geistige Behinderung sage, dass er eine posteriore Leukencephalopathie hat, weiß er auch nicht, was es bedeutet. Auch hier muss ein Arzt mit einfachen Worten erklären und seine Erklärungen an die Bedürfnisse des Patienten anzupassen. In meiner Arbeit ist es allerdings schwierig, dass ich es häufig nicht nur einer Person erklären muss, sondern auch noch dem Umfeld. Da kommen häufig unterschiedliche Anforderungen und Rückfragen.
Grenzerfahrungen
Wo erleben Sie in Ihrer Arbeit Grenzen?
Erst mal gibt es keine Grenzen. Das, was menschenmöglich ist, versuchen wir zu verwirklichen. Es gibt Spezialtherapien, die nur in einzelnen Zentren deutschlandweit vorgehalten werden. Das kann man in der ambulanten Praxis nicht nachholen.
Eigentlich versuchen wir aber, so grenzenlos wie möglich zu arbeiten.
Was macht für Sie die Arbeit persönlich so spannend?
Ich lerne jeden Tag etwas Neues und ich sehe Krankheitsbilder, zu denen ich mich erst mal einlesen muss, weil sie so selten auf der Welt sind. Zudem lerne ich über den Patienten hinaus ganze Netzwerke kennen, die dafür sorgen, dass die Integration so weit wie möglich funktioniert. Das heißt, ich behandele immer ein System und fast nie eine einzelne Person. Das macht es extrem abwechslungsreich und lehrreich.
Dr. Freundlieb, vielen Dank für das Gespräch
Das Interview führte Laura Will