Co-Reading in Berlin - "Erst lesen, dann socializen, dann gehen wir wieder heim"

So 16.03.25 | 16:18 Uhr | Von Robert Ackermann
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Menschen bei einem Co-reading-event. (Quelle: rbb/Ackermann)
Bild: rbb/Ackermann

WhatsApp, Instagram, TikTok – unser Alltag ist voll von digitalen Reizen. Um dem zu entkommen, veranstaltet ein Berliner Start-Up so genannte Co-Reading-Events und folgt damit einem internationalen Trend. Von Robert Ackermann

Auf den ersten Blick wirkt es, als habe sich eine Horde Start-up-Mitarbeiter in einer Hotellobby zur Networking-Party verabredet. Im "Edge" Co-Working-Space am Berliner Hauptbahnhof gibt es eine offene Eingangshalle mit großen Holzstufen. An der Wand sind Bücher und Schallplatten ausgestellt. Rund 60 Co-Reader smalltalken hier auf einem Plateau mit Kaffeebechern in der Hand und Namensstickern auf ihren Pullis. Dann ertönt ein Gong und nach einer kurzen Einführung von Gründerin Kseniia beginnt die so genannte "Focus Time".

"Erst lesen, dann socializen, dann gehen wir wieder heim"

Die Teilnehmer:innen kramen ihre selbst mitgebrachten Bücher hervor und verteilen sich im Raum. Leise Entspannungsmusik kommt aus einer Box. Die meisten der Teilnehmer beginnen nun zu lesen, aber nicht alle: Leonie aus Australien hört ein Audiobook und repariert dabei ihre Jacke. "Ich bin hier, um Leute zu treffen und eine strukturierte soziale Interaktion zu haben", sagt die 42-Jährige auf Englisch. "Ich bin manchmal sozial ein wenig unbeholfen und hier weiß ich, wie es läuft: erst reden, dann lesen, dann socializen, dann gehen wir wieder heim."

Andere sind gekommen, weil sie einfach mal ihre Ruhe haben wollen. So wie Karo, 31, aus Polen, die in einem Malbuch für Erwachsene gerade ein Monster koloriert. Auch sie spricht Englisch: "Zu Hause ist so viel Ablenkung. Mein Hund kommt zu mir, das Telefon klingelt. Immer ist etwas und hier kann ich mal eine Stunde einfach nur malen."

Die Co-Reader kommen aus der ganzen Welt

Kreativ sein ist also auch erlaubt, aber die meisten bleiben dann doch beim Lesen. Einige haben Klassiker wie George Orwells "1984" mitgebracht, andere Werke des Investments-Gurus Warren Buffet, aber auch Fantasy- und Liebesromane scheinen hoch im Kurs zu stehen. Nur wenige lesen hier allerdings auf Deutsch. Die Co-Reader kommen aus der ganzen Welt: aus Kolumbien, Israel, der Türkei – oder Indonesien zum Beispiel. So wie Nura, der ein Buch über existenzielle Physik mitgebracht hat. "Ich lese gerne, meine Freunde eher nicht", sagt der 32-Jährige. "Deswegen freue ich mich, Gleichgesinnte zu treffen. Ich bin schon das dritte Mal hier. Es ist super nett und ich bekomme Buchempfehlungen."

Menschen bei einem Co-reading-event. (Quelle: rbb/Ackermann)"Break Out-Session": Sich gegenseitig von seinem Buch

Wie international die Gruppe ist, merkt man auch, als es wieder gongt – zur so genannten "Break Out-Session". Jetzt hat jeder Leser, jede Leserin drei Minuten, um einer zufälligen Runde von seinem Buch zu erzählen. Ein Timer misst die Zeit. Nur an einem Tisch wird Deutsch gesprochen - ansonsten ist die Umgangssprache Englisch. Für den Fall, dass das Gespräch nicht so richtig läuft, gibt es eine kleine Box mit Fragen: Was war das Highlight deiner Woche? Hast du schon mal einen Star getroffen? Was ist deine liebste Verfilmung eines Buches?

Dem deutschen Winter entgehen

Beim Co-Reading geht es auch darum, neue Leute zu treffen und dem deutschen Winterwetter zu entgehen, erzählen die Gründerinnen Kseniia und Varvara Vlasenko. Sie kommen ursprünglich aus Sibirien. Dort haben sie bei Minus 40 Grad Außentemperatur oft zu Hause mit Familie und Freunden gelesen. Aber der Berliner Winter sei noch härter als der in Novosibirsk: "In Sibirien ist der Winter zwar kalt, aber es ist sehr sonnig und wir haben Schnee. Die Sonne spiegelt sich darin und es ist deswegen total hell, sagt Kseniia mit leichtem russischen Akzent. "Hier ist es meistens sehr grau und deswegen freuen wir uns, dass wir dieses Projekt haben, dass man drinnen etwas Schönes machen kann."

Internationaler Trend

Was romantisch klingt, ist aber auch eine Geschäftsidee. Kseniia und Varvara wollen das Co-Reading unter dem Namen "Pausify" bald häufiger anbieten. Der Eintritt kostet aktuell 9,90 Euro, eine Monatskarte 14,90 Euro. Um dann im eigenen Buch zu lesen?! Immerhin: Der Kaffee ist umsonst. Andere Leseclubs wie "The Silent Bookclub" nehmen zwar keinen Eintritt, dafür werden Teilnehmende je nach Location auch mal gebeten, Getränke zu kaufen, zum Beispiel im Café des Bode Museums in Berlin.

Die Nachfrage für solche Events scheint jedenfalls da zu sein: Ein ähnliches Konzept aus Amsterdam "The Offline Club" ist mittlerweile in Städte wie Barcelona, London, Paris und Dubai exportiert. Hier geht es vor allem darum, ohne Smartphone kreativ zu sein. Bei Instagram haben die Macher schon eine halbe Million Follower. Bei "Pausify" sind es derzeit knapp 8.000 – Tendenz steigend.

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16 Kommentare

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  1. 16.

    Oh ja, mein "zu-Bett-gehen-Ritual". Ich freue mich oft so darauf. Schön lüften, Bett aufschütteln, alles bereitlegen, Badezimmer. Und dann: Buch aufschlagen ... und jemand über mir fängt mit dem Bohren von Löchern an. Wir sind eine bedrohte Spezies ;)

  2. 15.

    Stimmt, man hat Sehnsucht nach der altehrwürdige Zentralbibliothek wo höchstens geflüstert wurde. My Special Book Place!

    Oft kann man gut im Zug lesen, ezwa für 58€ monatlich mit der Deutschlandticket. Aber auch dort fahren gelegentlich sogenannte Kulturzüge mit Darbietungen, Clowns, Pflichtbespassung.

    Am Ende ist zu Hause lesen vielleicht das beste.

  3. 14.

    Eines meiner 'schrägsten' Erlebnisse in einer Kinder- und Jugendbibliothek: Es herrschte Stille, es wurde gelesen und gearbeitet. Dann kam zum angemeldeten Besuch eine KiTa-Gruppe. Lautes Geschrei, Rumtoben, Rumgerenne bis hin zu Raufereien. Meine Nachfrage, ob denn die KInder nicht vorher geübt hätten wie man das - für kleine KInder anstrengende - Leisesein schaffen könnte, quitierten die Errzieherinnen mit Verständnislosigkeit, als sei das ein völlig abwegiger Gedankengang. Auch gab es keine Übereinkunft nach dem Motto "erinnert Ihr Euch was wir besprochen hatten?". Mein Hinweis an die Bibliothekarin(!), daß man doch bitte den Kindern eine Bibliothek erklären solle und dort z. B. nur flüstern dürfe, wurde mit der Aussage gekrönt, daß man die Kinder "nicht einengen oder beschränken" wolle. Für die Kinder wäre besser gewesen, in einer neuen Situation gleich die angemessenen sozialen Verhaltensweisen vermittelt zu bekommen. Wann genau sollten sie es denn sonst lernen?

  4. 13.

    Könnt ihr euch bitte einfach mal über eine positive Nachricht und schöne Idee freuen?
    Es kommt niemand zu Schaden und wir auch nicht gezwungen dort mitzumachen.
    Schön, dass es Menschen gibt, die solche Treffen möglich machen :))

  5. 12.

    Erst socializen, dann Break Out-Session. Während die Care-Arbeit @home liegen bleibt.

    Meeeeega!

  6. 11.

    Sprachlich recht interessant: meistens auf Englisch

    Nur wieviel oder vielmehr wie wenig sogenannte native Speaker von Englisch sind dabei?

  7. 10.

    Ist doch eine schöne Möglichkeit für Neubürger, Singeles etc. interllektuell interessierte Menschen kennen zu lernen.
    Ob man das Umfeld benötigt, um "Suchverhalten" abzustellen? Schöner Nebeneffekt ;-)
    Glückwunsch an die Betreiber: Eintrittspreise für einen sonst offenen Raum von 9,90 EUR....
    Möge es möglichst viele Co-Leser geben, die sich als Freunde wieder treffen!

  8. 9.

    Ich muss noch ein bisschen weiter lästern.
    " Es geht vor allem darum ohne smartphone aktiv zu sein....", aber schon 1 halbe Million Follower bei insta zu haben.und es sollen ja sicher mehr werden. Ich lach mich schief. Ich back jetzt mal nen Kuchen ohne smartphone und ohne Follower: innen.

  9. 8.

    Aha..langsam verstehe ich das: die Teilnehmer: innen nehmen teil.
    Wie Start up Mitarbeiter Aussehende sind immer männlich (im Text Zeile 2). Zuhause kann man das Telefon nicht ausschalten, Musik nicht anmachen oder ausmachen. Mandalas im Café ausmalen würde keinen Eintritt kosten aber natürlich einen Kaffee, andere Leute lernt man im Kaffe auch nicht kennen....usw. usf.
    Also ich konnte mein Leben lang in meiner Freizeit lesen was, wann und wo ich wollte, hab immer jemand zum drüber reden gefunden...wenn ich wollte ( nicht immer sofort) und sogar länger als 3 Minuten.
    Aber wenn Reader: innen und Socializer: innen das im co working space brauchen, dann ist es doch schön für sie ,wenn sie sich das kaufen können und ihr Lesen so optimieren und lifestylen können.
    Ich würde tablet anstatt Buch empfehlen, dann kann man parallel seine eigene Musik streamen...ist doch autonomer.
    Also schmunzeln musste ich schon beim Lesen des Artikels zuhause mit Tee und Radio 1 im Hintergrund.

  10. 7.

    "socializen" bedeutet etwa "geselliges Beisammensein", was viel länger ist, aber sprachlich sehr gut klingt ;)

    Oder fast noch schöner: "bunte Nachmittag"!

    Gibt's bei uns auch.

  11. 6.

    Soziale Kontakte aufbauen/pflegen, würde ich sagen. Also im Prinzip das Gegenteil von allein sein.

  12. 5.

    Frage zur Überschrift, "Erst lesen, dan... WAS? Bitte erklären, was soll das auf deutsch heissen? Danke.

  13. 4.

    Gerade wenn viele Nationalitäten zusammenkommen, sollte man in der richtigen Grammatiklehrmeinung sich verständigen. Das spaltet nicht.
    („teilnehmen : die Teilnehmer“ ist ganz einfach für Nichtmuttersprachler)

    P.S. Dann muss man auch nicht das Unmögliche erklären: Warum Journalisten „Mörder:innen“ u.Ä. nie verwenden)

  14. 3.

    Wären Bibliotheken noch Bibliotheken und somit leise, bräuchte man das nicht!
    Oh Mann...

  15. 2.

    Tolle Idee! So kann man sein Lesen optimieren und neue Liben kennenlernen, bei kostenlosem Kaffee!

  16. 1.

    Leise Entspannungsmusik?

    Für mich und vielen anderen ist es wahrscheinlich vielmehr nervende ablenkende Dudelei!