Co-Reading in Berlin - "Erst lesen, dann socializen, dann gehen wir wieder heim"

WhatsApp, Instagram, TikTok – unser Alltag ist voll von digitalen Reizen. Um dem zu entkommen, veranstaltet ein Berliner Start-Up so genannte Co-Reading-Events und folgt damit einem internationalen Trend. Von Robert Ackermann
Auf den ersten Blick wirkt es, als habe sich eine Horde Start-up-Mitarbeiter in einer Hotellobby zur Networking-Party verabredet. Im "Edge" Co-Working-Space am Berliner Hauptbahnhof gibt es eine offene Eingangshalle mit großen Holzstufen. An der Wand sind Bücher und Schallplatten ausgestellt. Rund 60 Co-Reader smalltalken hier auf einem Plateau mit Kaffeebechern in der Hand und Namensstickern auf ihren Pullis. Dann ertönt ein Gong und nach einer kurzen Einführung von Gründerin Kseniia beginnt die so genannte "Focus Time".
"Erst lesen, dann socializen, dann gehen wir wieder heim"
Die Teilnehmer:innen kramen ihre selbst mitgebrachten Bücher hervor und verteilen sich im Raum. Leise Entspannungsmusik kommt aus einer Box. Die meisten der Teilnehmer beginnen nun zu lesen, aber nicht alle: Leonie aus Australien hört ein Audiobook und repariert dabei ihre Jacke. "Ich bin hier, um Leute zu treffen und eine strukturierte soziale Interaktion zu haben", sagt die 42-Jährige auf Englisch. "Ich bin manchmal sozial ein wenig unbeholfen und hier weiß ich, wie es läuft: erst reden, dann lesen, dann socializen, dann gehen wir wieder heim."
Andere sind gekommen, weil sie einfach mal ihre Ruhe haben wollen. So wie Karo, 31, aus Polen, die in einem Malbuch für Erwachsene gerade ein Monster koloriert. Auch sie spricht Englisch: "Zu Hause ist so viel Ablenkung. Mein Hund kommt zu mir, das Telefon klingelt. Immer ist etwas und hier kann ich mal eine Stunde einfach nur malen."
Die Co-Reader kommen aus der ganzen Welt
Kreativ sein ist also auch erlaubt, aber die meisten bleiben dann doch beim Lesen. Einige haben Klassiker wie George Orwells "1984" mitgebracht, andere Werke des Investments-Gurus Warren Buffet, aber auch Fantasy- und Liebesromane scheinen hoch im Kurs zu stehen. Nur wenige lesen hier allerdings auf Deutsch. Die Co-Reader kommen aus der ganzen Welt: aus Kolumbien, Israel, der Türkei – oder Indonesien zum Beispiel. So wie Nura, der ein Buch über existenzielle Physik mitgebracht hat. "Ich lese gerne, meine Freunde eher nicht", sagt der 32-Jährige. "Deswegen freue ich mich, Gleichgesinnte zu treffen. Ich bin schon das dritte Mal hier. Es ist super nett und ich bekomme Buchempfehlungen."

Wie international die Gruppe ist, merkt man auch, als es wieder gongt – zur so genannten "Break Out-Session". Jetzt hat jeder Leser, jede Leserin drei Minuten, um einer zufälligen Runde von seinem Buch zu erzählen. Ein Timer misst die Zeit. Nur an einem Tisch wird Deutsch gesprochen - ansonsten ist die Umgangssprache Englisch. Für den Fall, dass das Gespräch nicht so richtig läuft, gibt es eine kleine Box mit Fragen: Was war das Highlight deiner Woche? Hast du schon mal einen Star getroffen? Was ist deine liebste Verfilmung eines Buches?
Dem deutschen Winter entgehen
Beim Co-Reading geht es auch darum, neue Leute zu treffen und dem deutschen Winterwetter zu entgehen, erzählen die Gründerinnen Kseniia und Varvara Vlasenko. Sie kommen ursprünglich aus Sibirien. Dort haben sie bei Minus 40 Grad Außentemperatur oft zu Hause mit Familie und Freunden gelesen. Aber der Berliner Winter sei noch härter als der in Novosibirsk: "In Sibirien ist der Winter zwar kalt, aber es ist sehr sonnig und wir haben Schnee. Die Sonne spiegelt sich darin und es ist deswegen total hell, sagt Kseniia mit leichtem russischen Akzent. "Hier ist es meistens sehr grau und deswegen freuen wir uns, dass wir dieses Projekt haben, dass man drinnen etwas Schönes machen kann."
Internationaler Trend
Was romantisch klingt, ist aber auch eine Geschäftsidee. Kseniia und Varvara wollen das Co-Reading unter dem Namen "Pausify" bald häufiger anbieten. Der Eintritt kostet aktuell 9,90 Euro, eine Monatskarte 14,90 Euro. Um dann im eigenen Buch zu lesen?! Immerhin: Der Kaffee ist umsonst. Andere Leseclubs wie "The Silent Bookclub" nehmen zwar keinen Eintritt, dafür werden Teilnehmende je nach Location auch mal gebeten, Getränke zu kaufen, zum Beispiel im Café des Bode Museums in Berlin.
Die Nachfrage für solche Events scheint jedenfalls da zu sein: Ein ähnliches Konzept aus Amsterdam "The Offline Club" ist mittlerweile in Städte wie Barcelona, London, Paris und Dubai exportiert. Hier geht es vor allem darum, ohne Smartphone kreativ zu sein. Bei Instagram haben die Macher schon eine halbe Million Follower. Bei "Pausify" sind es derzeit knapp 8.000 – Tendenz steigend.
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