Fünf Jahre nach Corona-Lockdown - "Wir waren damals einfach hilflos"
Vor fünf Jahren schloss Berlin Schulen, Sportplätze, Clubs. Mitglieder der damaligen rot-rot-grünen Koalition ziehen nun ein selbstkritisches Fazit der Maßnahmen. Vor allem die Interessen junger Menschen seien damals zu wenig beachtet worden. Von Tobias Schmutzler
Als Michael Müller, Elke Breitenbach und Silke Gebel den Senatssitzungssaal im Roten Rathaus betreten, kommen sofort Erinnerungen hoch. Fast auf den Tag fünf Jahre ist es her, dass die Berliner Landesregierung die ersten Coronaschutzmaßnahmen erließ. "Wir sind oft übers Ziel hinausgeschossen", sagt der frühere Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) heute selbstkritisch. "Wir waren damals einfach hilflos", stellt die damalige Arbeits- und Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Die Linke) fest. "Wir mussten gegen einen unsichtbaren Feind kämpfen", fasst Silke Gebel, ehemals Fraktionsvorsitzende der Grünen, die Stimmung von damals zusammen.
Das Treffen im Senatssitzungssaal haben wir initiiert, um die Mitglieder der früheren rot-rot-grünen Regierungskoalition zu ihrem heutigen Blick auf die Coronamaßnahmen zu befragen – und zu dem, was Politik und Gesellschaft für ähnliche Krisen aus den Erfahrungen lernen können. Als sie am langen, massiven Konferenztisch Platz nimmt, erinnert sich die Ex-Fraktionsvorsitzende Gebel an eine Senatssitzung Mitte März 2020. Erstmals nahmen die Charité-Wissenschaftler Christian Drosten, Heyo Kroemer und Ulrich Frei teil und erläuterten dem Senat, wie sie die Bedrohungslage durch das des neuartigen Coronavirus einschätzen.
"Wer hätte sich vorstellen können, dass Schulen geschlossen werden?"
Aus Gebels Sicht machte der Virologe Drosten eindrücklich klar, unter welcher Tragweite die politischen Entscheidungen der kommenden Monate und Jahre stehen würden. Er berichtete von der womöglich drohenden Triage-Situation auf Intensivstationen: Ärztinnen würden vielleicht bald entscheiden müssen, welchem Corona-Patienten sie ein Beatmungsgerät anlegen und welchem nicht. "Diese erste Unterrichtung, was passieren kann, war erschreckend", sagt Michael Müller. "Wir mussten gegen einen unsichtbaren Feind kämpfen", beschreibt Silke Gebel die Lage, in der noch nicht vorstellbar war, wie sich das Coronavirus in Deutschland ausbreiten würde.
Die wissenschaftlichen Beratungen seien über die gesamte Pandemie hinweg sehr wichtig gewesen, so die frühere Sozialsenatorin Elke Breitenbach. Zu Beginn sei die Ungewissheit noch gewaltig gewesen. "Wer hätte sich denn vorstellen können, dass Schulen und Restaurants geschlossen werden? Oder dass es in diesem Land zu wenig Masken oder andere Schutzkleidung gibt? Wir waren damals einfach hilflos."
Geholfen habe den politischen Entscheidungsträgern der gemeinsame Abwägungsprozess, auch wenn er oft schwierig gewesen sei. Damals stimmte sich der Senat täglich telefonisch ab. In der Bevölkerung habe es die Politik aber nie allen recht machen können, so Breitenbach: "Es gab immer Leute, denen es zu wenig war, und es gab immer Leute, die sich eingeschränkt fühlten."
Mitte März 2020 begann der erste harte Lockdown
Vorbote des Berliner Lockdowns war Ende Februar 2020 die Absage der Touristikmesse ITB. Bereits hier wurde in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert, ob dieses Vorgehen zu hart sei. Zur gleichen Zeit erregte der Infektionsausbruch im Club Trompete, bei dem sich Dutzende Menschen ansteckten, viel Aufmerksamkeit.
Die erste bestätigte Corona-Infektion in Berlin wurde am 1. März 2020 festgestellt. Zehn Tage später stufte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Ausbreitung des Coronavirus als weltweite Pandemie ein.
Am Samstagabend des 14. März setzte die Senatskanzlei dann die ersten weitreichenden Maßnahmen in Kraft: Schulen, Kultureinrichtungen, Sportplätze, Fitnessstudios, Clubs und Bars wurden geschlossen. Da sich die Regeln am Wochenende noch nicht weitläufig herumsprachen, führte die Polizei in Friedrichshain und Mitte Kontrollen mit zwei Hundertschaften durch.
Ab dem 17. März sagten Krankenhäuser planbare Operationen ab. Kurz danach folgte die zweite Stufe des Berliner Lockdowns: Alle Geschäfte schlossen, bis auf Lebensmittelläden und wenige andere Ausnahmen. Menschen machten daraufhin Hamsterkäufe von Toilettenpapier, Mehl und Konserven.
Auch die ersten staatlichen Finanzhilfen folgten bald: Ab dem 27. März 2020 bewilligte die Investitionsbank Berlin Coronahilfen. Die Server der IBB brachen unter der Masse von Anträgen zusammen. In den ersten 48 Stunden zahlte die IBB Hunderte Millionen Euro an Soforthilfen aus. Die Kehrseite dieses schnellen, unbürokratischen Vorgehens waren zahlreiche zu Unrecht ausgezahlte Gelder, die später Gerichte beschäftigten.
"Vieles wurde zu aufgeregt entschieden"
Viele unterschiedliche Schutzregeln folgten in den kommenden Monaten. Am längsten hielt sich in Berlin die Maskenpflicht im öffentlichen Nahverkehr, die erst im Februar 2023 auslief.
Im Rückblick erkennen die drei damaligen Koalitionsmitglieder bei den verhängten Maßnahmen aus heutiger Sicht einige klare Fehler. "Wir sind oft übers Ziel hinausgeschossen – bundesweit und auch in Berlin –, wenn es um die Kontaktverbote geht", sagt der frühere Regierende Bürgermeister Müller. Zum Beispiel sehe er die Kontaktbeschränkungen auf wenige Personen, die sich zu Weihnachten treffen durften, im Nachhinein kritisch. "Da war vieles, wo man heute sagt: Das war so nicht nötig und wurde zu aufgeregt entschieden."
Auch die Interessen der jungen Generation seien damals zu wenig beachtet worden, so der frühere Regierende Bürgermeister. "Was ich persönlich überhaupt nicht richtig auf dem Schirm hatte, waren die jungen Erwachsenen. Wir haben stundenlang über die Situation von Kindern in Kitas und Schulen oder auch Älteren in Pflegeheimen diskutiert." Aber beispielsweise Menschen Mitte zwanzig, die plötzlich weder Uni, Job noch Freizeitangebote aufsuchen konnten, habe der Senat nicht genug im Blick gehabt. "Das sehe ich inzwischen als großes Problem, auch von mir persönlich, dass ich das nicht oder viel zu spät gesehen habe, was mit denen passiert."
"Wenn es hart auf hart kommt, interessiert sich keiner für euch"
Aus Sicht der damaligen Grünen-Fraktionsvorsitzenden Gebel war zudem einer der größten Fehler, die Schulen über mehrere Wochen geschlossen zu halten. "Die heutigen 18-Jährigen, die auch gerade gewählt haben, waren vor fünf Jahren mitten in der Pubertät und haben Schulschließungen erlebt. Ich glaube, dass da einer ganzen Generation gezeigt wurde: Wenn es hart auf hart kommt, dann interessiert sich keiner für euch. Das ist eine Gruppe, wo man sich entschuldigen muss", so Gebel. "Wir haben den Kindern da viel Schlimmes angetan", sagt auch die damalige Arbeits- und Sozialsenatorin Breitenbach. Sie und Michael Müller verweisen allerdings darauf, dass damals sowohl die Wissenschaft Schulschließungen teils empfohlen habe und auch viele Eltern und Lehrkräfte diese vehement forderten.
Die Linken-Politikerin kritisiert außerdem im Rückblick, dass vulnerable Gruppen, wie Menschen mit Behinderungen, Obdachlose oder Betroffene von häuslicher Gewalt stets zu wenig im Blick gewesen wären.
Breitenbach sieht aus heutiger Sicht auch viele Kontaktbeschränkungen, die Aufenthalte draußen betrafen, als Fehler. Dazu zählt sie das Verbot von Treffen im Freien oder die Schließung von Spielplätzen, die von Bezirken verfügt wurden. "Aber letztlich standen wir immer vor der Entscheidung: Wenn wir mit Corona zu lax umgehen, dann sterben Menschen – und wir tragen dafür die Verantwortung."
Wie soll die Pandemie nun aufgearbeitet werden?
Michael Müller empfiehlt, eine Enquetekommission oder einen Untersuchungsausschuss des Bundestages einzusetzen, um den politischen Umgang mit der Pandemie aufzuarbeiten. Alternativ kann er sich auch einen Bürgerrat vorstellen.
"Wir haben guten Grund, uns auf die nächsten Krisen vorzubereiten – das muss nicht eine Pandemie sein." Die Schwärzung der Protokolle des Robert-Koch-Instituts [www.tagesschau.de] kritisiert der SPD-Politiker scharf. "Es gibt überhaupt nichts zu verheimlichen. Es ist ein großer Fehler, da irgendetwas zu schwärzen."
Die Grünen-Abgeordnete Silke Gebel und Ex-Arbeitssenatorin Elke Breitenbach halten eine Enquetekommission eher nicht für geeignet, um die Coronamaßnahmen aufzuarbeiten.
Die Linken-Politikerin fände es sinnvoller, sich in allen damals betroffenen Bereichen noch einmal mit den Beteiligten auszutauschen und Schlüsse für künftige Krisen zu ziehen. In ihrem damaligen Verantwortungsbereich seien solche Treffen etwa mit Trägern der Wohnungslosenhilfe sinnvoll – um für künftige Krisenlagen besser vorbereitet zu sein.
Eine große Baustelle bleibt aus Gebels und Breitenbachs Sicht zudem die Digitalisierung der Verwaltung. Sie sei während Corona vorangekommen, aber immer noch nicht weit genug vorangeschritten für künftige Krisen. Ebenso müsse der öffentliche Gesundheitsdienst besser ausgestattet sein als heute.
Sendung: rbb24 Abendschau, 17.03.2025, 19:30 Uhr