Wie politisch kann und sollte ein Filmfestival sein? Unter neuer Leitung von Tricia Tuttle versucht die Berlinale den Spagat zwischen gesellschaftlicher Relevanz, künstlerischem Anspruch und internationalem Glamour. Eine Bilanz der ersten Tage. Von Andreas Lueg und Jannis Byell
Tricia Tuttle ist keine Berlinale-Chefin, die für sich selbst den großen Auftritt auf dem roten Teppich sucht. Im Gegenteil: Sie bleibt im Hintergrund, lässt den Stars und Regisseuren den Vortritt. Eine Ermöglicherin. Sie selbst nennt das Festival einen Ort der Gemeinschaft: "Im Kino teilen wir eine Erfahrung, wir lachen zusammen, wir weinen zusammen. Wir sehen Filme und erkennen darin, was uns gemeinsam ist, unsere Menschlichkeit. Das macht die Berlinale politisch."
Gleich der Eröffnungsfilm, Tom Tykwers in Berlin situiertes Familiendrama "Das Licht", spricht die Themen an, die uns unter den Nägeln brennen. Migration, Klimawandel, Identitätskrise, Flucht in virtuelle Welten. Auch Burhan Qurbani dekliniert das Themen bildgewaltig durch - in seinem Film "Kein Tier. So Wild". Shakepeares "Richard III." wird hier als spektakuläre Berliner Gangstergeschichte umgesetzt: Gewalt, Wut, Clash der Kulturen.
Gefragt nach ihrer Filmauswahl sagt Tricia Tuttle: "Wir sagen nicht: Hier ist ein Thema, das ist der Film dazu. Es geht uns um schön gemachte, künstlerisch, ästhetisch, kulturell wichtige Filme - und die unglaubliche Vielfalt der Kunstform Film."
Das schwierige Erbe der Berlinale
Als Tricia Tuttle 2024 an die Spitze der Berlinale gerufen wurde, sollte sie vor allem eins: Ein in die Krise geratenes Festival wieder nach vorn bringen: Gegenüber der Konkurrenz in Cannes und Venedig hatte die Berlinale an Bedeutung verloren. Auch seine alte Funktion, ein Scharnier zwischen Ost und West zu sein, hatte das Festival eingebüßt. Die Stars aus Hollywood blieben oftmals aus.
Die Gala zur Preisverleihung im vergangenen Jahr endete mit einem Eklat. Dem Festival und dem Direktorenteam wurde vorgeworfen, antisemitische Äußerungen und einseitige Sympathiekundgebungen geduldet zu haben. Es fehlte an Empathie für Israel und die Geiseln der Hamas. Kein leichtes Erbe für Tricia Tuttle, die von sich selbst sagt, dass sie viel Zeit damit verbracht hat, darüber nachzudenken, was der Eklat für sie und das Festival bedeutet: "Nach der letztjährigen Zeremonie gab es enormen Druck, dass solche Äußerungen nicht wieder vorkommen dürften." Und doch, so Tuttle, "brauchen wir mehr Pluralität, denn Künstler brauchen Raum, um über Dinge zu sprechen."
Die Oscar-Preisträgerin sagte auf der Berlinale, sie sei eine große Bewunderin von BDS, einer Bewegung, die Israel isolieren will. Bereits bei der Eröffnung hatten Tilda Swinton und andere Filmschaffende mit politischen Statements für Aufmerksamkeit gesorgt.
Die Berlinale als politisches Festival
Bei der Eröffnungsgala reihte sich Tricia Tuttle ein in die Solidaritätsaktion einiger Schauspieler wie Christian Berkel oder Andrea Sawatzki. Sie hielten auf dem roten Teppich ein Foto des noch immer im Gaza Streifen festgehaltenen Schauspielers David Cunio in die Kamera und erinnerten damit an sein Schicksal. Auch der Film "Letter To David", der seine Geschichte erzählt, ist auf dem Festival zu sehen – ein Versuch der Aufarbeitung des Terrors.
Die Schauspielerin und Oscar-Preisträgerin Tilda Swinton bekam den Goldenen Ehrenbären für ihr Lebenswerk verliehen. In ihrer Rede auf der Eröffnungsgala der Berlinale wendete sie sich gegen eine Politik von Ausgrenzung, Verfolgung und Abschiebung. Am Tag darauf sagte sie in einer Pressekonferenz, dass sie eine Bewunderin der BDS-Bewegung sei, die zum Boykott gegen Israel aufruft.
Wir sind entschieden gegen jedweden Antisemitismus. Aber wir müssen dafür sorgen, dass die Meinungsfreiheit erhalten bleibt.
Tricia Tuttle, Berlinale-Chefin
Auf diese Widersprüchlichkeiten angesprochen, meint Tricia Tuttle immer wieder, dass das Festival selbst keine politischen Statements mache. Sie verstehe die Berlinale als offene Bühne: "Wenn wir aber Leute zum Schweigen bringen, haben wir ganz schnell kein Internationales Filmfestival mehr. Wir sind entschieden gegen jedweden Antisemitismus. Aber wir müssen dafür sorgen, dass die Meinungsfreiheit erhalten bleibt."
Tricia Tuttle wird nicht müde zu betonen, wie wichtig es ist, viele Stimmen zu hören: "Und genau das meine ich, wenn ich sage, dass es nicht die Aufgabe einzelner Künstler sein kann, alles über die sehr, sehr komplexe Welt, in der wir leben, zu sagen. Wir müssen hinsehen und großzügig sein, um die vielen Stimmen zu hören."
Berlinale-Stars positionieren sich politisch
Bild: Picture Alliance/Soeren Stache
Auf dem Roten Teppich positionieren sich auch in diesem Jahr zahlreiche Prominente in Hinblick auf die aktuelle politische Lage: Die Berliner Schauspielerinnen Meret Becker und Anna Thalbach solidarisierten sich am Eröffnungsabend mit geflüchteten Menschen.
Bild: dpa-Bildfunk/Christophe Gateau
Ihrem Appell für mehr Menschlichkeit auf dem Mittelmeer schlossen sich bei der Medienboard Party am Samstag zahlreiche Prominente wie Heike Makatsch oder Trystan Pütter an. "Wir appellieren daran, dass Menschen in Not, auf der Flucht, die Asyl suchen, von uns erst einmal aufgenommen werden müssen", betonte Heike Makatsch. Die Aktion war Teil einer Protestaktion der Hilfsorganisation SOS Humanity.
Bild: Picture Alliance/AP/Markus Schreiber
"Man kann nur hoffen, dass die Menschen aufwachen, dass sie nicht rechts wählen, dass sie sich die Wahlprogramme noch mal wirklich ganz genau anschauen", sagte Heike Makatsch (53) weiter. "Ich drücke uns nur allen die Daumen, dass sich der Wind noch dreht."
Bild: Picture Alliance/Annette Riedl
Schauspielerin Denise M'Baye erschien am Samstag mit einer Fahne mit der Aufschrift "vote love", wähl Liebe, auf dem Roten Teppich.
Bild: Picture Alliance/Markus Schreiber
Klimaaktivistin Luisa Neubauer kritisierte mit ihrer Robe Friedrich Merz' Abstimmung im Bundestag mit der AfD. "Donald&Elon&Alice&(in grauer Schrift) Friedrich?" stand auf ihrem Kleid. "Democracy dies in Daylight" war auf dem Rücken zu lesen. Demokratie sterbe bei Tageslicht.
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Am Eröffnungsabend sagte Schauspieler Lars Eidinger an Berlins Bürgermeister Kai Wegner gewandt: "Schau's Dir an: Die Intelligenz sitzt in der Kultur. Es kann nicht sein, dass wir der den Hahn abdrehen." Er bezog sich auf die massiven Einsparungen des Berliner Senats im Kulturbereich.
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US-Amerikanische Schauspieler blieben in ihrer Kritik zu US Präsident Trump bisher zurückhaltend, aber doch deutlich. Der Oscar-Anwärter Timothée Chalamet äußerte sich so: "Ich würde sagen: Vorsicht vor jeglicher Retterfigur, ganz gleich, wer das ist."
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Oscarpreisträgerin Jessica Chastain antwortete auf die Frage, ob die USA noch das Land der Träume sei: "Ich werde mein Land nicht aufgeben. Viele von uns sind immer noch sehr hoffnungsvoll - und wir kämpfen für eine gute Sache." Trump erwähnte sie nicht.
Bild: dpa-Bildfunk/Soeren Stache
Der Wettbewerbsbeitrag "Strichka chasu" (Time Stamp) zeigt, wie in der Ukraine der Schulunterricht trotz des Krieges aufrechterhalten wird. Den Kindern soll ein Stück Normalität bewahrt werden. Zur Präsentation des Dokumentarfilms auf der Berlinale hält das Team am Donnerstag, den 20. Februar vor der blauen Wand eine ukrainische Flagge hoch. Die Lehrerkollegen des Protagonisten und jetzigen Soldaten Borys Khovriak (Mitte) haben auf ihr unterschrieben.
Bild: Richard Hübner
Auch der Nahost-Konflikt ist Thema auf der Berlinale: Der Dokumentarfilm "A Letter to David" von Tom Shoval wird auf der Berlinale gezeigt. Die Freilassung der israelischen Geisel David Cunio und seines Bruders, die seit dem 7. Oktober 2022 von der Hamas verschleppt worden sind, forderten der Filmemacher Tom Shoval, Alona Refu und George Hertzberg.
Bild: Eventpress Fuhr
Ihrer Forderung schlossen sich neben der Intendantin der Berlinale, Tricia Tuttle, unter anderen Düzen Tekkal, Christian Berkel, Andrea Sawatzki, Ulrich Matthes und Martina Gedeck an.
Den Ehrenbär der Berlinale erhielt am Donnerstag, den 13. Februar 2025 die schottische Oscarpreisträgerin Tilda Swinton. In ihrer Dankesrede sprach sie sich gegen eine "Politik von Ausgrenzung, Verfolgung und Abschiebung", sowie generell gegen Besetzungen, Kolonisierung, Massenmord und Kriegsverbrechen aus.
"Ich bin eine große Bewunderin von BDS und habe großen Respekt davor", sagte die 64-Jährige tags darauf bei einer Pressekonferenz der Berlinale. BDS steht für "Boykott, Desinvestition und Sanktionen" und richtet sich unter anderem gegen Waren aus Israel sowie gegen die Zusammenarbeit mit Israel in Kultur und Wissenschaft. Ihre Aussage sorgte für gespaltene Reaktionen.
Bild: berlinale.de/Jun Li
Zu Ermittlungen des Staatsschutzes kommt es nach einer Berlinale-Veranstaltung in der Urania am Wochenende: Regisseur Jun Li warf Deutschland vor, "Genozid" an den Palästinensern zu unterstützen. Die deutsche Regierung und ihre Kulturinstitutionen, einschließlich der Berlinale, leisteten ihren Beitrag zur Apartheid, zum Völkermord und dem brutalen Auslöschen des palästinensischen Volkes. Als Reaktion aus dem Publikum gab es zustimmende, aber auch deutlich kritische Zwischenrufe. Berlinale-Intendantin Tricia Tuttle bedauerte den Vorfall.
Bild: Picture Alliance/Christoph Soeder
Die neue Berlinale-Chefin Tricia Tuttle hatte bei der Eröffnungsgala gesagt: "Ich hoffe, dass wir uns einander Gehör schenken. Ich denke, es ist so dringlich wie nie zuvor, dass wir miteinander reden können".
Neu erfinden kann auch Tricia Tuttle das Festival nicht. Doch sie steuert die Berlinale selbstbewusst durch eine dramatische Zeit und holt Filme nach Berlin, die von den aktuellen Kriegen und Krisen erzählen. Wie der Dokumentarfilm der Regisseurin Eva Neymann: "When the Lightning Flashes over the Sea" spielt in Odessa und erzählt unter anderem von Fadej, der es liebt, allein zeigt, durch die Straßen seiner Stadt voller Ruinen zu gehen und davon träumt, dass es zu seinem Geburtstag einen großen "leckeren Schokoladenkuchen" gibt. Oder auch der Dokumentarfilm "Timestamp", der im Wettbewerb läuft, und in dem Kateryna Gornostai den Alltag in ukrainischen Schulen während des Krieges beobachtet.
Die Berlinale 2025 steuert auf die zweite Halbzeit zu und eines wird bereits jetzt deutlich: Auch die neue Festivalleiterin setzt darauf, die Berlinale als politisches Festival zu positionieren. Sie selbst betont ihr Interesse an "Filmemachern mit starken Standpunkten". Das spiegelt sich auch im Programm wider – ein Versuch, in einer zunehmend komplexen Welt verschiedene Perspektiven sichtbar zu machen.
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2.
Es scheint großen Veranstaltungen, auf Neudeutsch Events, eigen zu sein, dass Positionierungen immer in Richtung eines Plakativen gehen. Das allerdings ist weit mehr dazu geeignet, sich auf die einzig denkbare richtige Seite zu stellen, als wirkliche Denkprozesse anzuregen, die ggf. abseits von Blockbildungen liegen.
Der Konflikt in Palästina und Israel hätte die Auflösung einschlägiger Blockbildung jedenfalls verdient. Blockbildung: dass die Palästinenser nur die Unterdrückten wären, edle Freiheitskämpfer gegen eine triumphale Übermacht, Blockbildung: dass nahezu jegliche Kritik an Israelischen Regierungen, selbst an der gegenwärtigen Regierung, in Wirklichkeit doch die Juden an sich meine, auch wenn das nirgendwo gesagt und geschrieben steht.
Auflösung der Blockbildung: Es gibt übelste Nationalisten auf palästinensischer Seite, die Menschenwürde in Quadratkilometer Land bemessen und es gab und gibt Ultraorthodoxe u. Siedler in Israel, die aus anderen Gründen desselbe tun.
1.
Ich habe tatsächlich mit Erschrecken festgestellt, dass die Berlinale wiederholt mit Antisemitismus glänzte.
Vielleicht sollten wir darüber nachdenken, ob der Gedanke der Berlinale nicht verlorengeht und wir diese Berlinale in dieser Form nicht mehr durchführen sollten.
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